Volltext: Die Geschichte des Weltkrieges Band III. (3; 1920)

22 Die Kriegsereigni 
not gerichtet hatten, machte es unmöglich, zur gleichen Zeit 
den Forderungen der Front gerecht zu werden. Die inneren 
Wirren, immer größere Dimensionen annehmend, pflanzten 
sich auch auf das Kriegsgebiet fort, und schließlich erreichte 
die allgemeine Gärung, die im Volke ausgebrochen war, 
die Soldaten an der Front. Vergeblich Mar das Bemühen 
der revolutionären Regierung, die Nachrichten von den 
Ereignissen in Petersburg nicht an die Front gelangen zu 
lassen, und die Abdankung des Zaren, die nicht verHeim-- 
licht werden konnte, in einem harmloseren Licht erscheinen 
zu lassen. Für den einfachen russischen Soldaten hatte der 
Krieg jeden Sinn verloren, wenn die geheiligte Person des 
Zaren, für den allein er schon seit Peter des Großen Zeiten 
mit Begeisterung gekämpft hatte, nicht mehr existierte. 
„Wofür kämpfen wir denn weiter noch?" war die ständige 
Frage im Schützengraben. Unverständlich war es dem im 
Grunde friedlichen russischen Bauern, schon zu Kriegs-- 
beginn, warum überhaupt gegen die Deutschen Krieg ge- 
führt wird. „Sie haben ihr Land wie das unsere; wir leben 
glücklich und zufrieden in dem unseren und brauchen das 
ihre nicht, ebenso wie sie das unsere nicht brauchen, weil sie 
ihr eigenes besitzen." „Wozu war es notwendig, ihnen den 
Krieg zu erklären? Aber, weil es einmal das Väterchen 
befohlen hatte, so zogen wir für ihn in den Krieg, ohne zu 
fragen, denn er weiß ja, warum es notwendig ist." Solcher-- 
art war die Denkungsweise des weit vom Weltgetriebe 
friedlich dahinlebenden Bauern, der nichts anderes kannte, 
als die Sorge um sein Heim, um seine Felder und sein Vieh. 
Schweren Herzens verließ er seine heimatliche Scholle, um 
dem Rufe seines Herrschers zu folgen, so wie es seine 
Väter getan haben. Unverständlich war ihm daher die 
ganze revolutionäre Bewegung, welche ihm sein höchstes 
moralisches Gut, den Glauben an den Z a r e n und die 
ihm geschworene Treue raubten. 
Diesen Typus der in der Armee am meisten vertretenen 
Landbevölkerung stand der des russischen Fabrikarbeiters 
gegenüber. Von Natur aus langsam und schwerfällig, un- 
selbständig im Denken und Handeln, ist der Russe, wie 
vielleicht kein anderer Volksstamm, stets geneigt, sich willen-- 
los fremdem Einfluß zu unterwerfen und sich für fremde 
Ideen zu begeistern, ohne zu fragen, ob es zu seinem Guten 
oder Bösen sei. So unterliegt er, wenn er mit fremden 
Elementen in Berührung kommt, sehr bald deren Einfluß 
und kann in kürzester Zeit ein ebenso überzeugter Revolu¬ 
tionär werden, wie er früher ein treuer Untertan des 
absolutistischen Zaren war. Deshalb bildete der russische Ar-- 
beiter das brauchbare Werkzeug in der Hand der leitenden 
Männer der Umsturzbewegung, das geeignete Mittel, ihre 
Ideen weiter zu verpflanzen und ihnen die Macht zur Durch-- 
führung ihrer Pläne zu verleihen. Da es aber viele Führer 
gab, die verschiedene Ideen und Ziele hatten, so teilten sich 
auch die willenlosen Volksmassen in mehrere Parteien, die 
sich gegenseitig bekämpften. Die allgemeine Unordnung 
und Verwirrung nahm immer größere Dimensionen an. 
Der Zerfall des Riesenreiches mußte die logische Folge sein. 
Die Vorgänge im Innern lenkten die Aufmerksamkeit 
von den Ereignissen an der Front umsomehr ab, als die 
Meinung vorherrschte, daß der Hauptzweck der Revolution 
doch nur die Herbeiführung des Friedens sei. Alles hoffte, 
nun recht bald heimkehren zu können, und gutmütig reichte 
gar mancher russische Soldat im Schützengraben seinem 
bisher feindlichen Gegenüber die Friedenshand. Doch das 
war nicht in dem Sinne der neuen Herren in Petersburg. 
■ an der Ostfront. 
Der Einfluß der Verbündeten blieb auch weiter bestehen. Sir 
George William B u ch a n a n, dessen Verdienst es war, daß 
zwei so heterogene Elemente, wie die Russen und die Briten, 
sich zu einer engen Brüderschaft und Freundschaft verbunden 
hatten, gab, trotz des offenkundigen diplomatischen Miß-- 
erfolges, durch den die ganze von ihm geförderte Umsturz- 
bewegung eine ganz andere als die gewünschte Richtung 
angenommen hatte, nicht die Hoffnung auf, daß sich alles 
noch zu gunsten der Westmächte wenden könnte. Noch hatte 
er in Petersburg das Heft in der Hand. Willfährig folgten 
auch die Revolutionsmänner seiner geheimen Führung. 
Die am Z0./7. gehaltene Rede des deutschen Reichs- 
kanzlers, worin die Friedensbereitschaft des Vierbundes 
offen und ohne Rückhalt der ganzen Welt verkündet wurde, 
machte keinen Eindruck auf die provisorische Regierung, 
welche genau so wie die zaristische unter Englands Einfluß 
stand. Ihre Sorge war nur, daß derartige Friedensreden 
nicht im Schützengraben bekannt werden, ebensowenig wie 
die Erklärung, daß die Deutschen keinen Offensivplan gegen 
Rußland hegen, und sich jeder Einmischung in die inneren 
Angelegenheiten des Reiches enthalten werde«. Um die 
aufkeimende Friedensstimmung zu unterdrücken, erließ der 
Kriegsminister Gutfchkow einen Aufruf an das Heer, 
worin es hieß, daß die Deutschen gegen Petersburg mar- 
schieren wollen. Der Friede könne nicht geschlossen werden, 
bevor die Deutschen nicht besiegt sind. An diesen Sieg 
glaubte aber schon lange kein russischer Soldat mehr. Die 
schon bedenklich gelockerte Disziplin an der Front fand 
ihren Ausdruck in Massendesertionen und Gehorsams- 
Verweigerungen, und als die Ideen der Freiheit und Gleich- 
heit auch an der Front in der Bildung von Soldatenräten 
festen Fuß gefaßt hatten, ging die militärische Disziplin 
bei einem großen Teil der Feldformationen vollkommen 
in die Brüche. Mißliebige Kommandanten wurden von 
der Mannschaft ganz einfach abgesetzt, Offiziere mißhandelt 
und eingesperrt, und mit Genugtuung benützte der Unter- 
gebene die willkommene Gelegenheit, sich an seinen ver- 
haßten Vorgesetzten zu rächen. Nur in jenen Truppen- 
körpern, die sich aus den entlegeneren Gebieten, aus Ost- 
sibirien, Turkestan und dem Kaukasus rekrutierten, ver- 
mochten die energischen Kommandanten eine halbwegs 
stramme Disziplin zu erhalten. 
So war natürlicherweise die Kampftätigkeit russischer- 
seits nur auf einzelne weit voneinander entfernte Abschnitte 
beschränkt, wobei es aber auch da nur zu ganz unbedeuteu- 
den Vorstößen von Aufklärungsabteilungen kam. Nur die 
unter englischem und französischem Kommando stehende 
Artillerie bildete noch den einzigen Rückhalt für die Front, 
ihr Feuer, wenn auch in großen Zwischenpausen abgegeben 
und wenig wirksam, verriet noch die Anwesenheit des 
'Feindes. 
2. Die Einnahme des Brückenkopfes von Tobol. 
Unsererseits herrschte die Tendenz vor, in keiner Weise 
die sich entwickelnde, dem Frieden zustrebende Volksbe- 
wegung im russischen Reiche zu stören, und nur die un- 
geklärten Verhältnisse, welche bei dem Kampfe der Friedens- 
und Kriegspartei in Rußland herrschten, ließen es uns 
rätlich erscheinen, die militärische Vorsorge für kommende 
Ereignisse nicht außer acht zu lassen. Demgemäß trachteten 
wir unsere Front dort, wo ungünstige Verhältnisse seiner- 
zeitImit in den Kauf genommen werden mußten, auch 
weiter nach Möglichkeit zu verbessern. Dies galt vor allem
	        
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