Volltext: Die orientalische Periode in der Geschichte des jüdischen Volkes (1 ; 1937)

§ 68. Die jüdisch-arabische Renaissance 
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Punkten und Strichen auszuarbeiten, die, ebenso wie die neu einge- 
führten Interpunktionszeichen sowie die Zeichen für den Tonansatz 
und die Skandierung beim öffentlichen Vorlesen der Bibel, ober-, 
inner- und unterhalb der Buchstaben angebracht wurden. An diesem 
erst im io. Jahrhundert zu Ende geführten Werke waren die Gelehr 
ten Palästinas, der Heimat der Bibel, maßgebend beteiligt. 
Die Einführung der Punktation (»Nikkud«), durch die das Stu 
dium der Bibel in den Schulen erheblich erleichtert wurde, bahnte 
aber zugleich den Weg für die Ausarbeitung einer hebräischen Gram 
matik und Lexikographie und bereitete so den Boden für die Wie 
dergeburt der durch die arabische Sprache aus der Literatur fast 
gänzlich verdrängten Sprache der Bibel. Bezeichnend ist es, daß die 
ersten, im io. Jahrhundert in Tiberias wirkenden jüdischen Gram 
matiker Ben Ascher und Ben Naphtali »Punktatoren« genannt wur 
den. Mit besonderem Eifer wandte sich ihr berühmter Zeitgenosse 
Saadia Gaon dem neuen Forschungsgebiet zu; in seinem arabisch ge 
schriebenen »Buch über die Sprache« stellte er die hebräische Gram 
matik und damit auch die Bibelexegese auf eine feste wissenschaft 
liche Grundlage. Aus den eigenen Worten Saadias wissen wir, wie 
schwer er darunter litt, daß er in Ermangelung einer durchgebildeten 
hebräischen Sprachlehre die meisten seiner Werke arabisch abfassen 
mußte. Der von ihm erlassene Aufruf zur Wiederbelebung der alten 
nationalen Sprache sollte im Abendlande bald lebhaftesten Anklang 
finden. [ • i ( 
Zu derselben Zeit, als die philologische Bibelexegese im Morgen 
lande ihren ersten kühnen Anlauf nahm, näherte sich dort die agga- 
dische Bearbeitung der Bibel, deren Niederschlag die Literatur der 
Midraschim bildet (oben, § 59), ihrem Abschluß. Die altüberkomme 
nen Sammlungen »Midrasch Rabba« und »Midrasch Tanchuma« 
wurden erweitert und ergänzt, und daneben entstanden neue Werke 
von gleichem Gepräge, wie etwa die aggadischen Kommentare zu 
den Psalmen und zu den Sprüchen Salomonis. Im Gegensatz zu die 
sen Homiliensammlungen, die sich an anerkannte Vorbilder anlehn 
ten, bedeutete das in der Epoche der arabischen Herrschaft entstan 
dene lyrische Gegenstück zu der synagogalen Predigt, die synagogale 
Dichtkunst, der Piut, ein völliges Novum. In rhythmischer Prosa 
oder in gereimten Versen besangen die Poeten der Synagoge, die 
»Paitanim«, in Form eines vertraulichen Zwiegesprächs zwischen 
Israel und seinem Gotte die Erhabenheit des Weltschöpfers und den 
alten Ruhm des auserwählten Volkes, den Lebenswandel seiner hei-
	        
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