Judaismus, Hellenismus und Christentum
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seinem Großvater war Gamaliel bestrebt, das Recht mit dem Leben
in Einklang zu erhalten. Besonderen Wert legte er auf die Pflege der
Beziehungen zu den Gemeinden in der Provinz und in der Diaspora,
die er im Namen des Synhedrion an das Herannahen der Jahresfeste,
an ihre Pflichten der Jerusalemer Priesterschaft gegenüber u. dgl. zu
erinnern pflegte. Hier der Wortlaut eines uns überlieferten Send
schreibens des Gamaliel: »Unseren Brüdern in Ober- und Unter
galiläa, möge sich euer Wohlstand mehren! Wir tun euch kund, daß
die Zeit des Abscheidens des Zehnten gekommen ist, beeilet euch
darum, den Zehnten von der Olivenlese abzuscheiden.« Ebenso wie
Hillel, zeichnete sich Gamaliel durch große Duldsamkeit aus, die
unter anderem darin zum Ausdruck kam, daß er das den Armen
zustehende Recht auf die Ernteüberreste auch den in Judäa ansässigen
Fremden zuerkannte.
Eine gerade entgegengesetzte Tendenz den Fremden gegenüber
wurde unter dem Sohne Gamaliels, Rabbi Simon (60—68), im Syn
hedrion richtunggebend. Als im Jahre 66 die blutigen Nationalitäten
kämpfe in Palästina und der Diaspora entbrannten (oben, § 45),
erließen die Jerusalemer Gesetzeslehrer mit R. Simon an der Spitze
»achtzehn Regeln«, durch die die strengste Absonderung der Juden
von den Fremdstämmigen erreicht werden sollte. Den Juden wurde
untersagt, Nahrungsmittel bei den Heiden zu kaufen, in ihrer Sprache
zu reden, geschweige denn in verwandtschaftliche Beziehungen mit
ihnen zu treten usw. Es war dies gleichsam ein Kodex des Kriegs
rechts, Repressalien, die dazu bestimmt waren, die jüdische Nation
von den feindlichen Elementen zu säubern, die mit Billigung der
Römer die Juden in deren eigenem Lande befehdeten. Nach den
ersten Erfolgen der Revolution trat Simon ben Gamaliel, wie erinner
lich, in die Regierung der nationalen Verteidigung ein. Sein ge
mäßigter Zelotismus vermochte ihn indessen vor dem Mißtrauen der
extremen Parteien nicht zu schützen, und so fiel auch er als Opfer
der Umwälzung, die die Gewalt in die Hände der Extremisten gab.
Es ist ungewiß, ob er von der Hand der Sikarier oder aber nach der
Einnahme Jerusalems von der Hand der Römer fiel.
Als der Untergang des in den letzten Zügen liegenden jüdischen
Staates nicht mehr abzuwenden und das Ringen um die Überreste der
politischen Autonomie völlig aussichtslos geworden war, rafften sich
die Führer der gemäßigten Pharisäer dazu auf, wenigstens das zu
retten, was von der geistigen Autonomie des Volkes noch zu retten
war. Neben den Helden, die bereit waren, im Kampfe gegen Rom