Jüdische Theokratie — Entwicklung des Judaismus nach der Restauration
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Sammlung überlieferten hebräischen Psalmen mit den erhalten ge
bliebenen Hymnen der Babylonier übereinstimmen, möge die fol
gende Gegenüberstellung zeigen:
Babylonischer Hymnus
Herr, Herrscher der Götter, der im
Himmel und auf Erden allein erhaben
ist... Ertönt dein Wort im Himmel,
so werfen sich die Igigi (Himmelsgöt
ter) auf ihr Antlitz, ertönt dein Wort
auf Erden, so küssen die Anunaki (die
irdischen Götter) den Boden. Zieht
dein Wort oben wie ein Wetter dahin,
macht es Weide und Tränke reichlich,
erschallt dein Wort auf Erden, wird
grünes Kraut erzeugt. Dein Wort läßt
Wahrheit und Gerechtigkeit entstehen..
Dein Wort ist der ferne Himmel, die
verdeckte Erde, die niemand schaut;
dein Wort, wer kennet es, wer kommt
ihm gleich?... (Aus dem Hymnus an
den Mondgott Sin.)
Biblischer Psalm
Wer ist in den Wolken Jahve gleich,
Jahve ähnlich unter den Götterwesen?
Ein Gott schrecklich im Kreise der
Heiligen, groß ist er und furchtbar
über seine ganze Umgebung. Jahve,
Gott Zebaoth, wer ist wie du? ... Du
bist Herr über des Meeres Ungestüm,
wenn seine Wellen sich heben, du be
schwichtigst sie... Dein ist der Himmel,
ja dein die Erde, der Erdkreis und was
ihn füllt, du hast alles gegründet, Nord
und Süd, du hast sie geschaffen ... Du
hast heldenstarken Arm, gewaltig deine
Hand, deine Rechte erhaben. Recht
und Gerechtigkeit sind die Stütze dei
nes Throns, Gnade und Treue stehen
vor deinem Antlitz (Psalm 89, 7—15)
Die auffallende Stilähnlichkeit darf indessen nicht darüber hinweg
täuschen, daß in den babylonischen Hymnen die Stimmungen eines
exklusiven Priestertums zum Ausdruck kamen, während sich in den
biblischen Psalmen die in allen Schichten des jüdischen Volkes leben
dige Frömmigkeit widerspiegelt. Aber auch abgesehen davon stehen
die Gebete und Hymnen der Babylonier zu denen der Juden in dem
gleichen Gegensatz wie der Polytheismus zum absoluten Monotheis
mus.
Die Anfänge der hebräischen religiösen Lyrik reichen, wie sich
aus der textkritischen Analyse mancher Psalmen ergibt, bis in die
Königszeit zurück. Daraus folgt jedoch nicht, daß die vom Redaktor
des »Buches der Psalmen« David zugeschriebenen Kapitel (Psalm
3—9 u. a.) tatsächlich von diesem herrühren. Eine ganze Reihe von
Psalmen trägt Spuren ihres Ursprungs aus der Epoche des Unter
gangs Judas und des babylonischen Exils, so der berühmte Psalm 139
»An den Strömen Babels« (oben, § 19). Die patriotische Stimmung
der aus Babylonien nach der Heimat zurückkehrenden Juden findet
in den »Wallfahrtliedern« (Psalm 120—134) ihren Widerhall. Der
größte Teil des Psalmenbuches jedoch stammt aus einer späteren,
bis in die Periode der griechischen Herrschaft reichenden Zeit