5 j6. Die Entstehung des jüdischen Zentrums in Rußland (1654—1789)
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die sich 1 mit Schlagworten nicht mehr abtun ließ. Schon der erste Ge-
neralgouvfcrneur, der von Katharina in dem neuerworbenen Gebiet
eingesetzt worden war, tat denn auch den Willen der Kaiserin kund,
»die jüdischen Gemeinden im Genüsse aller Freiheiten zu belassen,
deren sie sich in bezug auf Glauben und Besitz bis dato erfreuten«.
Dabei allein konnte es jedoch in dieser Zeit der gründlichsten Umge
staltung der ganzen inneren Verwaltung des Reiches nicht sein Be
wenden haben. Es galt zu entscheiden, ob die Juden als »Stand« für
sich fortbestehen oder aber .ihrer Erwerbstätigkeit gemäß auf ver
schiedene Berufsstände verteilt werden sollten. Das Ergebnis, zu dem
die Regierung allmählich kam, erwies sich als Kompromißlösung.
Zunächst blieb das überkommene polnische System in Kraft, und
im Interesse der Finanzverwaltung wurde angeordnet, daß die Juden
in den beiden weißrussischen Gouvernements Mohilew und Polozk
(das nachmalige Gouvernement Witebsk) »aller Orten Kahalen ange
hören und daß diese nötigenfalls mit Genehmigung der Gouverneure
neu gegründet werden sollten« (1772). Bei der Volkszählung von
1776 wurden die jüdischen Landesbewohner dementsprechend in be
sondere Steuerrollen eingetragen, wobei die Kahale für den Eingang
des »Kopfgeldes« verantwortlich gemacht wurden. Zugleich erhielten
diese aber auch die Befugnis, ihren Mitgliedern Pässe auszustellen
und in jüdischen Streitsachen Recht zu sprechen. Träger dieser auto
nomen Justizhoheit waren die den Kreis- und Gouvernementskahalen
angegliederten Gerichte erster und zweiter Instanz. Bald jedoch ge
langte die Regierung zu der Ansicht, daß es nicht geraten sei, die
soziale Absonderung der Juden weiter zu fördern. Als daher in Weiß
rußland die neue Städteordnung eingeführt und die städtische Bevöl
kerung teils dem Kaufmanns-, teils dem Kleinbürgerstande zugeteilt
wurde, wurden auch die Juden, und zwar mit Einschluß derjenigen,
die auf dem flachen Lande lebten, verpflichtet, sich in diese Stände
aufnehmen zu lassen (1778). Als Kaufmann galt jeder, der ein Ver
mögen von mindestens joo Rubel besaß (im Jahre 1783 gehörten we
niger als 7 Prozent der weißrussischen Juden dem Kaufmannsstande
an). Diese Neuerung hatte zur Folge, daß die jüdischen Stadtbewoh
ner die Gleichberechtigung im Bereiche der kommunalen Selbstver
waltung erlangten, und schon im Jahre 1784 gab es allein im Gou
vernement Mohilew nicht weniger als 25 jüdische Kommunalbeamte,
darunter sieben Bürgermeister.
Den wirtschaftlichen Interessen der Juden war allerdings der Um
stand, daß sie fortan w allesamt als Städter galten, recht abträglich.