Volltext: XV. Jahresbericht des öffentlichen Mädchen-Lyzeums in Linz 1904 (15. 1904)

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später Gelegenheit ergeben, zu zeigen, wie sehr Gefühl und Geschmack 
und persönliche Anschauung hier eine sichere Grenze unmöglich machen. 
Die naive Richtung. Diese führt uns in die ältesten Zeiten 
des Schrifttums zurück, das ist in jene Zeiten, in denen das gesamte 
Leben überhaupt sich vom nährenden Boden der Allmutter Erde noch 
nicht losgelöst hatte. Das war das goldene Zeitalter, in welchem es 
keine Kapitalskraft gab, in welchem der Fürst und der Vornehme eben 
nur der größere Grund- und Herdenbesitzer war. Da lebt in allen noch 
eine gewisse ursprüngliche Kraft und Natur; mit ihr verbindet sich die 
Einfachheit der Bedürfnisse und die ruhige Beschränkung auf einen 
kleinen, aber innerlich freien Ideenkreis. Die Dichtung, die solche Zu- 
stände zum Vorwurf nimmt, ist naturgemäß eine idyllische, die unbefangen 
schildert und erzählt. Der wesentliche Punkt aber liegt darin, daß 
die poetische Wiedergabe niemals zu einem bewußten Vergleich mit 
höheren Kulturstufen führt, daß sie vielmehr die ganze schlichte und 
einfache Lebensführung ländlicher Kreise als eine Erscheinung hinstellt, 
die neben uns und jederzeit für uns erreichbar besteht. Der Dichter 
schaut nicht zurück in entschwundene Welten und fühlt sich selbst nicht 
im Gegensatz zu dem, was er besingt; er lebt selbst im Bereiche seiner 
Dichtung, in dem er auch geboren und erzogen ist. 
Als Urbild solch naiver, noch im eigenen Bannkreise lebender 
Dichtung mag das Buch Ruth der Bibel dienen. Rein noch so künstlerisch 
veranlagter Dichter vermöchte es, einen Stoff von solcher Einfachheit 
der Handlung in so ergreifend schlichter Weise darzustellen; es ist ein 
Buch voll jener eigentümlichen Energie der Deutlichkeit, wie sie der 
Bibel überhaupt eigen ist; nicht umsonst hat auch die Malerei das Bild 
der Ährenleserin sich gern zum Vorwurf genommen. Schon die ganze 
behagliche Großmut des Reichen, der von dem Erntesegen den Armen 
ihr Teil läßt, ist etwas echt Episches, Dichterisches. 
Da aber mein Stoff mich schon einmal auf das biblische Gebiet 
geführt hat, sei es mir gestattet, auf den Verlust hinzuweisen, der in 
poetischer Einsicht darin liegt, daß heute die Bibel so wenig gekannt, 
so wenig gelesen ist. Das Buch, das ganzen Generationen nahezu den 
einzigen poetischen Stoff gegeben hat, in dem namentlich das Drama 
in seinen Anfängen so reiches Material gefunden hat, dieses Buch hätte 
auch dem modernen Künstler und Dichter noch so manches zu sagen. 
Das beste Beispiel hiefür bieten unsere Klassiker; denn wenn beispiels- 
weise der junge Goethe einen biblischen Stoff bearbeiten will, so können 
wir wohl annehmen, daß es nicht nur die vom „Messias" fortlaufende 
literarische Tradition ist, die ihn dazu bringt, sondern wohl auch das
	        
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