Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1909 (1909)

Die Auskunft lag dem Doktor schwer im Sinn, während er den morastigen 
Fußpfad zur Villa Erika emporstieg. Er hatte keinen nach dem Wege zu fragen 
brauchen, denn er kannte ihn so gut, daß er ihn wohl noch nach Jahrzehnten mühe¬ 
los wiedergefunden hätte, - und er hatte sich so danach gesehnt, ihn wieder zu 
gehen! Mit leidenschaftlich heißem Verlangen während des ersten Jahres seines Fern¬ 
seins, dann vielleicht weniger stürmisch und nur noch gelegentlich in einsamen Stunden, 
bis er von einer gewaltigen Lebenswoge erfaßt und weit, weit hinweggeführt worden 
war in fremde Länder und neue Verhältnisse, die ihm wenig Muße ließen, den 
Kultus alter Erinnerungen zu pflegen. Aber die große Lebeuswoge war wieder 
zurückgeebbt und hatte ihn auf einem öden, kahlen Strande zurückgelassen - allein, 
mit einem Gefühl trostloser Leere und bitterer Enttäuschung im Herzen. Da war 
mit mancher anderen auch die Sehnsucht nach der kleinen Villa im Tal von Wall¬ 
kirchen und nach der, die sie bewohnte, von neuem lebendig geworden in seiner Seele, 
und er war Tag und Nacht gereist, diese Sehnsucht zu stillen. Während der ganzen 
langen Fahrt hatte er sich's unablässig ausgemalt, wie behend und mit wie freudig 
jagenden Pulsen er auf dem wohlbekannten Steig emporeilen würde. Nun aber, 
da er sich seinem Ziel so nahe wußte, wurde sein Gang langsamer mit jedem Schritt, 
und er konnte dabei an nichts anderes denken, als an die Auskunft des dicken 
Posthalters: 
„Jünger ist's halt unterdessm auch nicht geworden, das Fräulein Mathesius - 
und lustiger schon gar nicht." 
In der Villa Erika aber stand zur nämlichen Stund ein schlankes, blondes 
Mädchen am Fenster, um gedankenverloren in den trüben grauen Novembertag hinaus¬ 
zuschauen. Sie war noch nicht alt, aber sie sah auch uidjt jung aus mit der matten 
Farbe ihrer schmalen Wangen und mit der scharf eingeschnittenen Linie, die sich von 
den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herabzog. Lange war ihr Blick dem schwer¬ 
fälligen Fluge eines Krähenvölkchcns gefolgt, das sich kreischend und zankend bald 
hier, bald dort auf den mißfarbigen Feldern oder auf dem Gezweig eines entlaubten 
Baumes niederließ. Nun aber wurde sie des Wanderers oder Spaziergängers an¬ 
sichtig, der sich so bedachtsam vom Dorfe her ihrem Hanse näherte, und lange, ehe 
die Züge seines Antlitzes für sie erkennbar geworden, wußte sie, wer er war. Sie 
schrie nicht auf, und ihre Hände suchten nicht nach einer Stütze, wie die Hände der 
Heldinnen in den Romanen, wenn sie nach so und so viel Jahren vergeblichen 
Harrens einen verloren Geglaubten unvermutet wiederkehren sehen. Sie neigte nur 
um ein Weniges den aschblonden Kopf und fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, 
wie um damit Klarheit zu schaffen in einem plötzlich auf sie einstürmenden Wirrwarr 
von Gedanken. Von allen Empfindungen, die in diesem Augenblick ihre Seele be¬ 
wegten, war vielleicht die stärkste eine Empfindung grenzenlosen Erstaunens über 
ihre eigene Gelassenheit. Denn zu so vielen hundert Malen sie versucht hatte, sich 
den Moment zu vergegenwärtigen, der ihr jetzt bevorstand, immer war ihre Phantasie 
erlahmt vor der Unmöglichkeit, alle die wonnigen Erregungen und ekstatischen Freuden 
hervorzuzaubern, die mit jedem Augenblick des Wiedersehens verbunden sein mußten 
— und nun nichts, gar nichts von alledem! Nichts als ein Gefühl unsäglicher 
Bitterkeit, und wie aus weiter Ferne das todestraurige Summen eines Reims, den 
sie oftmals mit wehem Gedenken an den Treulosen gesungen: 
„Kommst du so spät zurück? 
Nun ist's zu spät zum Glück " 
So öde und grau, wie sich da unter dem wolkenverhangenen Himmel die ehe¬ 
dem farbenprangende Landschaft zu ihren Füßen breitete, war ja längst ihr Leben. 
So hinfällig alt und sterbensmüde wie die Natur war ja auch ihre Seele. Helene
	        
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