Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1908 (1908)

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Das Croltenglein. 
Gin Märchen von P. Schuck. 
ein Großvater war ein prächtiger Mensch. Mein Großvater konnte mehr, 
oft tagelang durch den Wald streifen- und Holzpflanzen suchen und 
Tränklein gegen Husten brauen und Salben gegen böse Wunden kochen. 
Ja, ja,_ mein Großvater verstand noch mehr. 
Er konnte Geschichten erzählen und Märchen, die er ersonnen hatte 
in Wald und Flur, wenn er auf einsamen Wegen durch Tal und Gebirge 
^ . kam. Ihm hatte der Wald immer etwas zu erzählen. Und was ihm die tausend 
Stimmen des Waldes zuraunten an Frühlingstagen und Sommermorgen und was 
ihm der Sturm erzählte, wenn er mit seiner ganzen Wucht in das schwarze Kiefer¬ 
heer hineinfuhr, daß es ächzte und stöhnte und weinte, was ihm das dumpfe Rollen 
des Donners kündete, wenn in den dicken, grauen Wolken ein Gewitter hing, was 
ihm die Vöglein erzählten in ihrem Ziwit und Zirpzirp, und die Sonne, die gleißende, 
glühende, und die Blumen, die blühenden, duftenden, und all das kleine Getier, das 
den Wald bewohnt, das verstand er alles. Und das alles formte er zu kleinen Ge¬ 
schichten und Märlein. Und diese kleinen Geschichten und Märlein erzählte er uns 
Kindern von Vierlehen an linden Sommerabenden, wenn die Sonne hinter dem Ge¬ 
lände sank. Da saßen wir unter der alten Dorflinde; er in unserer Mitte und um 
ihn herum wir Kleinen von Vierlehen. Und manchmal auch einige Große. Da 
lauschten wir ihm und merkten dann gar nicht, daß mählich die Nacht niederkam 
und in dem Geäste der Linde ein leiser, kühler Wind und aus den Wolken der 
Mond hervorbrach und groß uud stille über dem Dorf stand. Von fernher qnackten 
im Weiher die Unken und ein stiller, frommer Friede zog durch die Natur, ein 
milder Engel schwebte über die Hütten und breitete seine Hände segnend ans: Nun 
ist es Schlafenszeit! Nun ist es Schlafenszeit! 
Da schlichen wir Kinder in die Hütten und krochen in unsere Bettcheu uud 
träumten von den Geschichten und Märlein, die uns der Großvater erzählt hatte. 
Eines Abends werde ich immer gedenken uud ein Märlein werde ich nie ver¬ 
gessen, das er uns einmal erzählte. 
Jni Dorfe war einem Manne die Frau und drei Kindern die Mutter gestorben. 
Am Abende des Tages, als man sie beerdigt hatte, da saßen wir mit dem 
Großvater wieder unter der alten Dorflinde. 
Weich und linde strich es von dem Gelände herüber und von den Aeckern kam 
eine Stift, die wie nach schweiß und Arbeit rych. Mählich sanken die Schatten tiefer 
und wurden länger und breiter . . . immer breiter bis sie das letzte Fleckchen Licht 
verdrängten, das sich scheu fortflüchtete. Hinter dem Gelände saß schon die Nacht 
und ihr Auge lugte aus dem Walddüster, wie suchend und irrend, als getraute sie 
sich nicht recht hervor. Dann sannte sie ihre Boten aus. Zuerst den Mond. Dann 
einen Stern . . . und wieder einen . . . wieder einen, bis ihrer unzählige waren 
und von dem schwarzen Teppich um und um niederflimmerten und niederblitzten. 
Dann stürmte die Nacht hervor aus ihrem Verstecke und zog mit ihren langen 
hageren Händen Schleier um Schleier tun Feld und Wald uud Dorf und schritt 
triumphierend durch das müde All. 
Die drei Kinder, denen die Mutter gestorben war, waren auch bei uns und 
auch deren Vater. 
Und der Großvater hub an zu erzählen:
	        
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