Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1908 (1908)

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bemächtigten sich sofort gleichzeitig seines Handkoffers dergestalt, daß Jeder einen 
Lederbügel ergriff und mit Leibeskräften an dem schwächlichen Ungetüm riß, sich 
gegenseitig die zornigsten Blicke zuwerfend. „Der Herr will zu uns!" — „Nein, bei 
uns rst der Herr besser aufgehoben!" belferten sie sich an. Ja, die Konkurrenz! „Liebe 
Leute, ich kaun doch nur zu einem," wollte Mottenkopf beschwichtigen, als er das 
fruchtlose Bemühen jedes Einzelnen sah, das Gepäck in Alleinbesitz zu bekommen. 
Als die Zerrerei immer gewaltsamer wurde, da tat es plötzlich einen krachenden 
ächzenden Laut unb von den beiden Kämpfenden stürzte jeder mit seiner er¬ 
beuteten Hälfte rücklings zu Boden, während der Inhalt, Wäsche und Kleidungs¬ 
stücke, sich lustig in alle vier Winde zerstreute. Die beiden Hausknechte, unbe¬ 
kümmert um den Schaden, den sie angerichtet, rafften sich schleunigst aus dem 
Schmutze empor, schwangen sich auf ihre Wagen, hieben auf die Pferde ein und fort 
waren sie. 
Da stand nun der unglückliche Sekretär Mottenkopf vor den Trümmern seines 
Koffers und vor seiner verstreuten Wäsche, wie weiland Seipio vor den Trümmern 
Karthagos. Vor Entsetzen schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Resigniert 
begann er seine beschnmtzteu Habseligkeiten zusammenzulesen und wurde dabei von 
einem menschenfreundlichen Bahnbediensteten unterstützt, der teilnehmend, wenn auch 
mit mühsam unterdrücktem Lächeln an dem Mißgeschick des Badegastes teilnahm. 
Dieser gute Mensch beschied unseren Sekretär schließlich in ein dicht beim Bahnhof 
gelegenes, gutes bürgerliches Gasthaus, das sich allerdings nicht um seine.Gäste risse, 
wie dies von Seiten des „Wiener Hofes" und der „Goldenen Sonne" buchstäblich 
mit dem Herrn geschehen, wie er lächelnd meinte, sondern was Bedienung, Ver¬ 
pflegung und Wohnung anbelangte, bei Einheimischen und Fremden iw besten 
Renommee stünde. Ephraim Mottenkopf dankte gerührt dem biederen Ratgeber und 
ging zu Fuß die wenigen Schritte nach dem gastlichen „Noten Hirschen" hinüber. 
Der freundliche Wirt, Herr Sanftleber, wollte sich schier -krank lachen über den 
merkwürdigen Anblick, den Mottenkopf gewährte, und er war aber auch ein Bild 
zum malen. Die trübselige Miene des Sekretärs, auf den Armen die beschmutzten 
Wüsche- und Kleidungsstücke, in den Händen die Reste des gichtbrüchigen Reisekoffers, 
Mottenkopf selbst barhäuptig, Rock und Beinkleid mit Schmutz bespritzt . . So 
kam dieser ueue Badegast an. 
Herr Sanftleber zeigte indes die innigste Teilnahme, 'nachdem ihm Mottenkopf 
sein Mißgeschick erzählt. Seine Sachen wurdeu alsbald in dem ihm angewiesenen 
Zimmer untergebracht und .teilweise zum Trocknen aufgehängt, Mottenkopf aber 
machte es sich mit einer Art Galgenhumor im Gastzimmer bequem, teils um seinen 
innern Menschen aufzutauen und durch Zufuhr von Speisen und Getränken zu 
restaurieren, teils um sein Aeußeres notdürftig zu reinigen und zu trocknen; sich 
zuvor umzuziehen, dazu war es ihm inzwischen zu spät geworden, und er beschloß, 
baldigst ins warme Bett zu kriechen, um die üblen Beigaben dieses ersten ereignis¬ 
reichen Badetages im Schlafe zu vergessen. 
Im Gastzimmer wars wirklich gemütlich. Der Wirt war ein vorzüglicher 
Gesellschafter und Witzbold, der sich unserm Ephraim ganz widmete; Speisen und 
Getränke, besonders ein auserlesenes Gewächs vom Rhein, zeigten eine vorzügliche 
Beschaffenheit; war es da zu verwundern, daß Mottenkopf in animierter Unterhaltung 
mit seinem fidelen Gastgeber immer mehr auftaute, „wie ein gefrorener Apfel in der 
Bratpfanne!" 
Es ging schon stark auf Mitternacht und Ephraim hatte sich bereits einen 
gehörigen Spitz angetrunken, in welchem Zustande er sogar über sein eigenes, lebhaft 
erörtertes Mißgeschick lustig zu lachen vermochte. .Doch seine Uhr und der Zweck
	        
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