Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

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Die alte Mama. 
Skizze von M. Thier y. 
Autorisierte Bearbeitung von A. Friedheim. 
(Nachdruck verboten.) 
„Hier ist ein Brief für Sie. Frau Eydet. 
„Ach! mein Gott! . . . aus Paris?" 
„Wohl von Ihrem Jean, was?" 
Mit zitternder Hand nimmt Frau Eydet den Brief vom Postboten in Empfang. 
Ohne Brille kann sie nicht mehr lesen. Aber an den starken, dicken Schristzügen 
allein weiß sie es schon, und freudig, und doch beunruhigt, sagte sie: 
„Ja, ja! er ist von meinem Sohn." 
Frau Eydet ist wieder in dem kleinen Gärtchen mit den schmalen, von Stachel¬ 
beersträuchern eingefaßten Wegen. 
Sie war damit beschäftigt gewesen, ein bischen im Garten nach dem Rechten 
zu sehen. 
Es war so warme Frühlingssonne und wenn die Zweige auch noch ganz kahl 
waren, so fing es doch schon überall an zu treiben. Sogar die ersten Veilchen waren 
schon heraus und ihr Duft war köstlich. 
Die alte Frau hatte sich gerade daran erfreut gehabt: wie doch alles in der 
Natur wieder erwachte. Aber nun, seit sie den Brief in den Händen hat, ist sie 
beunruhigt. 
Wenn nur nichts Unangenehmes in dem Brief steht, den sie zwischen ihren 
alten verarbeiteten Händen hin und her dreht. 
Aber wie kommt sie nur auf solche Gedanken? Seit ihr Sohn die Schule 
durchgemacht hat und nach Paris gegangen ist, um dort Medizin zu studieren, hat 
er ihr doch immer nur Gutes mitgeteilt! 
Erst die bestandenen Examen, dann der Doktorgrad. 
In all den Jahren war Jean nur selten gekommen. Frau Eydet litt unter 
der Trennung, aber dem Sohne sagte sie es nicht; das wäre ihm wohl unbequem 
gewesen, wenn sie so anspruchsvoll gewesen wäre; und in ihren Briefen stand auch 
nichts davon. Sie hätte auch wohl gar nicht die Worte darfür gefunden: Frau Eydet 
war ja doch nur eine so sehr einfache beschränkte Frau; wenigstens hielt sie sich dafür, 
im Vergleich zu dem „Gelehrten", der ihr Sohn geworden war. 
Als sie für ihren Jungen ehrgeizige Pläne machte, da hatten die Menschen 
alles Mögliche geredet... als er dann aber immer der erste gewesen, eine Freistelle 
auf der Schule erhalten, da hatten die lieben Nachbarn mit ihren Weissagungen, 
daß nichts aus dem Jungen werden würde, wohl schweigen müssen; nur einige 
hatten dann gemeint: „Nun, er wirds Ihnen nicht danken." 
Frau Eydet hatte dazu nur die Achseln gezuckt. 
Na ja, ihr Mann, „Vater Eydet," wie er von allen genannt wurde, war ein 
einfacher Landmann gewesen! Aber wenn er noch lebte, so würde sich der Sohn 
seiner ebenso wenig schämen, wie seiner Mama mit der weißen getollten Haube. Ach, 
ihr Jean sich ihrer schämen! — Ja, rein lächerlich, so etwas zu denken. 
Und dennoch, jedesmal, wenn die alte Frau einen Brief von dem geliebten 
Sohn bekommt, dann wird ihr so ängstlich, so unruhig und immer braucht sie erst 
em Weilchen, um wieder gleichmäßig heiter ihrer kleinen Wirtschaft nachgehen zu können. 
Jean Eydet hat sich in Paris eine Frau genommen.
	        
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