Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

Burkhardt eilte hinaus, Marianne stand zitternd mitten in der Stube. 
„O Gott, Brigitte, wenn der Verwundete nur nicht stirbt!" 
»Wie weit ist es noch bis zum Hause des Verunglückten?" hörte man draußen 
die Stimme des Medizinalrates. 
„Eine kleine Stunde etwa," war die Antwort. 
„Hm, — sehr bedenklich, warten Sie einmal." 
Burkhardt trat zu seiner Tochter. 
„Marianne," sagte er in ernstem Ton, „der da draußen kann vielleicht gerettet 
werden, wenn ihm schnelle Hilfe zuteil wird. Auf dem Transporte kann er sterben, 
wer weiß es, — das steht in Gottes Hand. Aber ich denke, es ist Ehrenpflicht, dem 
Aermsten beizustehen. Bist du einverstanden, so nehmen wir in einstweilen ins Haus, 
bis er transportfähig ist." Er sah dabei fragend seine Tochter an, die mit einem 
leisen Grauen kämpfte. 
„Mein Vater," entgegnete Marianne sanft, „was du beschließest, ist mir recht, 
aber willst du, der du den ganzen Tag von deinem Beruf in Anspruch genommen 
bist, dir für die wenigen Ruhestunden, die dir bleiben, eine solche Last aufbürden? 
Denke doch ein wenig an dich selbst, laß den Verwundeten mit unserem Fuhrwerk 
nach Hause fahren." 
„Und das sagt meine Marianne, die wie ein Engel der Barmherzigkeit in den 
Hütten der Armut erscheint, die allen so gern Gutes erweist? Mädchen, besinne dich 
doch, es ist ein Menschenleben, das auf dem Spiel steht!" 
„Nicht um meinetwillen redete ich so, Väterchen, einzig um deinetwillen. Die 
nächsten Wochen werden dir Aufregung genug bringen, wenn du einen Totkranken 
im Hause hast, und du bedarfst der Ruhe!" 
„Ach was, ein Arzt darf nicht an sich selbst denken, und wenn der arme Mensch 
ohne Gefahr transportiert werden kann, lasse ich ihn fortschaffen!" 
Damit eilte Burkhardt fort und stand im nächsten Augenblick vor dem Ver¬ 
wundeten, der noch immer besinnungslos mit geschlossenen Augen dalag. 
„Bringt den Verunglückten ins Haus, ein weiterer Transport könnte gefährlich 
werden!" rief der Medizinalrat, und machte Miene, selbst Hand anzulegen. Marianne 
erteilte der alten Brigitte die nötigen Befehle, rasch ein Zimmer herzurichten, und 
folgte dann dem Vater, der in diesem Augenblick fragte: „Wer ist denn der junge 
Mann hier, kennt Ihr ihn? 
„Es ist der Sohn unseres Gutsherrn, Arno von Ried," gaben die Männer 
Auskunft. 
Marianne sah, wie Ihr Vater zusammenzuckte, wie sein schon erhobener Arm 
herabsank. Er wandte sich ab. Totenblässe bedeckte seine Wangen, und in das sonst 
so gütige Gesicht war ein herber, feindseliger Zug getreten. Man sah es ihm an, 
er kämpfte einen schweren Kampf mit sich selbst. Unentschlossen stand er eine Weile, 
die Männer sahen sich fragend an, dann wieder den leise stöhnenden Verwundeten. 
Marianne legte dem Vater die Hand auf die Schulter. 
„Was ist dir?" 
„Nicht jetzt, Kind, frage mich jetzt nicht, — sonst wächst die Erbitterung in 
meinem Herzen, und ich" er unterbrach sich selbst — „nein," fuhr er auf, 
„es wäre feige — erbärmlich, — es wäre schlecht von mir, — Burkhardt,' alter 
Junge, — besinne dich doch, was du tun willst, — wo bleibt deine viel gerühmte 
Nächstenliebe, deine Christenpflicht, die du so gern betonst? Auf," wandte er sich 
wie mit raschem Entschluß an die harrenden Bauern, „macht rasch, daß Ihr den 
armen jungen Mann hereinbringt, er bedarf meiner Hilfe!"
	        
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