Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

Aus dem Nebenzimmer kam nun die Tante heraus, die mit Grünstift unter¬ 
strichene Verlobnngsanzeige dem Herrn Baron hinhaltend. 
„Sie sehen, daß Sie zu spät kommen, teurer Baron! Mein Bräutigam, Herr 
Rechtsanwalt Reinhardt, wird jeden Moment zum Diner erscheinen. Er ist der 
Verfasser des mir von Ihnen gesandten Gedichtes „Schneeflocken" — wie Sie, Herr 
Baron, ans diesem Büchlein ersehen können. Vielleicht haben Sie, mein Herr, seine 
Idee so deutlich nachempfunden, daß oh! Sie verstehen!" 
Irma hielt dem Verblüfften das Gedichtbuch hin. Es war dasselbe, welches 
er zu Hanfe hatte. 
„Gnädigstes Fräulein! In der Tat, hm! Ich muß bekennen, — wenn ich 
eine Ahnung gehabt hätte, daß — hm —." Er blieb mit seiner Rede stecken. Das 
war ihm noch nie passiert. Die Situation war eine sehr fatale. 
„Also, mein Herr! Leben Sie wohl, und möge Ihnen das neue Jahr viele 
erfreuliche Tage bringen." Irma und die Tante, die als stumme Zeugin sich am 
Tische zu tun gemacht hatte, verbeugten sich tief. 
„Gnädigstes Fräulein! Meine Damen!" — Das war alles, was der verun¬ 
glückte Dichter sagen könnte und dann verließ er mit einigen tiefen Verbeugungen 
den Salon. 
Elimar v. Prachendorf stürmte die Treppe hinunter. In den Straßen hatte 
sich ein Schneesturm erhoben. Da kam ein Windstoß und riß dem geknickten Freier 
den Zylinder vom Haupte. Die Schneeflocken fielen auf seine spärlichen Kopfhaare 
und trugen wesentlich dazu bei, sein in Wallung geratenes Blut abzukühlen. Oben 
in der ersten Etage standen hinter einem Fenster zwei Menschen, Irma und ihre 
Tante, und lachten, bis der Hut und sein Herr, der hinter ersterem herlief, um eine 
Straßenecke verschwanden. 
Nächstenliebe. 
Vom 3wnc v. Hellmuth. 
(Nachdruck verboten.) 
Au sonnigem Bergabhang, recht wie ein Nest im Grünen, lag die freundliche 
Villa des Medizinalrates Burkhardt. Er war Oberarzt des Hospitals und hatte das 
reizende Landhaus gekauft, um seine wenigen freien Stunden, die der anstrengende 
Beruf ihm ließ, in ungestörter Ruhe verbringen zu können 
Ein Gefährt, von zwei feurigen Rappen gezogen, hielt vor dem Hause. Der 
Herr, der die Zügel noch in der Hand hielt, knallte einigemale lustig mit der Peitsche, 
wohl um die Bewohnbr der Villa aufmerksam zu machen. Zugleich mit dem herbei¬ 
eilenden Kutscher erschien auch ein junges Mädchen in der Haustüre, das den An¬ 
gekommenen lebhaft begrüßte. 
„Ah, Väterchen, schon zurück? Du kommst ja heute ungewöhnlich früh!" 
„Ja," sagte dieser, der Tochter die Hand schüttelnd, „ich fühle mich wirklich 
müde, das muß die Frühlingsluft machen, ich sehnte mich ordentlich nach der Ruhe 
und dem Frieden meines stillen Hauses. Deshalb machte ich mich eine Stunde früher 
frei. Was noch zu tun ist, können die beiden Assistenzärzte besorgen." 
„Du überarbeitest dich auch zu sehr, Vater," meinte das Mädchen, sich an den 
Arm des hochgewachsenen Mannes hängend, dem es kaum bis an die Schulter reichte.
	        
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