Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

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ging an ein Büchergestell. Er nahm ein kleines Buch und las, es aufschlagend: 
„Gedichte von K. Reinhardt. München 1892." — Magnifique! Superbe! Da wird 
wohl etwas Passendes dazwischen sein. Diese Gedichte sind über dreizehn Jahre alt! 
Gott weiß, woher ich das Buch habe!" — Er blätterte und fand ein Gedicht mit 
dem Titel: „Schneeflocken." — Schneeflocken! das ist sehr passend, lesen wir es. Er las: 
Schneeflocken! 
Lustig fällt der Schnee vom Himmel, 
Und die losen, weißen Flocken, 
Setzen kühn und ohne Zagen 
Sich auf deine schwarzen Locken! 
Und die losen Winterboten 
Sind fürwahr sehr unbescheiden; 
Sie umwirbeln dich beständig, — 
Ach! ich möchte sie beneiden! 
Spielend dürfen sie dir nahen 
Und sich auf dein Köpfchen wagen, 
Und du duldest ihre Küsse, 
Ohne sie davon zu jagen! 
Glücklich würde ich mich schätzen, 
Wenn das Schicksal mir vergönnte. 
Daß auch ich einmal ein Küsschen 
Auf dein Köpfchen hauchen könnte! 
„Ah!" rief er aus, „das paßt ja ganz prächtig zu der heutigen Begegnung 
mit dem süßen Ungarkinde! Hm! ein hübsches Poemchen! Das könnte ich wohl ge¬ 
dichtet haben, — na! also." Er setzte sich und schrieb das Gedicht ab, fügte seinen 
Namen hinzu und bat die Adressatin, ihm gütigst gestatten zu wollen, ihr am Neu¬ 
jahrstage seine Glückwünsche zu Füßen legen zu dürfen. Dann rief er seinem Diener, 
gab ihm das Billett zur eiligen Bestellung, schob sich einen Sessel dicht an den 
Kamin, setzte sich bequem zurecht und murmelte: „So, nun habe ich am Ende 
dieses Jahres doch noch einen sehr vernünftigen Anfang in dieser Sache gemacht. Eh!" 
Irma Casazzi hatte schon als kleines Mädchen ihre Eltern verloren. Ihre 
Eltern, die große Weingüter hatten, hinterließen ihr ein großes Vermögen, welches 
bis zur Mündigkeit der Erbin vom Staate verwaltet wurde. Nachdem Irma majorenn 
geworden und zu einer entzückenden Mädchenblüte herangereift war, begann seitens 
der Herrenwelt ihrer Heimat ein förmlicher Ansturm auf die mit den schönsten Gaben 
und Gütern so reichlich gesegnete Erbin. Aber Irma scheerte sich nicht im Geringsten 
um diese liebeglühenden Bewerber, sie nahm eine alte Tante zu sich und machte eine 
Rundreise durch die Welt. 
Auf dieser Rundreise war sie nun auch nach Berlin gekommen. 
Seit vier Monaten bewohnte sie mit ihrer Tante und Dienerschaft eine prächtige 
Etage im Tiergartenviertel Sie amüsierte sich recht gut in Berlin und hatte natürlich 
auch hier unausgesetzt Heiratsanträge über sich ergehen zu lassen. 
Wir finden Irma allein in einem geräumigen angenehm erwärmten Salon 
ihrer Wohnung. Sie steht an einem entzückenden Schreibtisch und liest das Gedicht 
des Herrn Elimar v. Prachendorf. 
5*
	        
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