Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1904 (1904)

1. Herr Griesmrier hat einem Freunde fünf Gulden geliehen. 
„Du mußt recht reich fein, Ignaz! Ich möchte wohl wissen, wer dir fünf 
Gulden leihen würde? Aber so geht es in der Welt: Eine Frau arbeitet sich halb 
zu Tod, ist angebunden wie ein Kettenhund und spart sich alles vom Munde weg 
und der Herr Gemahl geht mit dem Gelde um, wie wenn er es nur auf der Straße 
aufzuheben brauchte. Aber du warst von jeher ein Verschwender! Schon seit drei 
Jahren hätte ich einen Schal nötig, aber was liegt daran, wie ich gekleidet bin? 
Wenn mir die Fetzen herunterhängen, das ist dir ganz gleichgiltig. Alle Leute sagen, 
daß ich nicht so angezogen bin, wie^es mir als deiner Frau zukäme. Aber um so 
etwas kümmerst du dich nicht. Du spielst gegen alle Welt den Generösen, außer 
gegen die Deinigen. Ich wollte nur, daß dich andere Leute so kennen würden, wie 
ich dich kenne. Du bist stolz darauf, wenn man deine Freigebigkeit rühmt, aber 
deine arme Familie muß darunter leiden. 
Unsere Mädchen brauchen neue Hüte, aber woher sollen wir sie nehmen? Mit 
den fünf Gulden hätte ich sie samt den Bändern bekommen; nun aber können sie 
ihren alten forttragen. Uebrigens sind es ja deine Kinder, sie sind dein Fleisch und 
Blut und die Schande fällt also nur auf dich zurück. 
Du weißt vielleicht nicht, daß der kleine Hans heute früh ein Fenster zerbrochen 
hat. Ich wollte es zum Glaser schicken, aber nachdem du fünf Gulden ausgeliehen 
hast, wollte ich weiten, haben wir kein Geld mehr, um es machen zu lassen. Das 
Fenster bleibt also wie es ist, wir haben ja das schönste Wetter, um den armen 
Jungen bei offenem Fenster schlafen zu lassen! Er hat schon einen Husten und es 
würde mich nicht wundern, wenn diese zerbrochene Scheibe ant Ende noch seinen Tod 
herbeiführen würde. Wenn der arme Junge stirbt, so fällt die Schuld seines Todes 
auf das Haupt feines Vaters, denn ich weiß gewiß, daß wir das Fenster nicht machen 
lassen können. Wie wäre es auch möglich, wenn man fünf Gulden wegschenkt? 
Morgen wäre die Polizze für die Brandafsekuranz zu zahlen; ich möchte wissen, 
wie wir dies machen sollen? Die fünf Gulden hätten zweimal dazu hingereicht, aber 
jetzt ist natürlich vom Assekurieren keine Rede mehr. Und nie kamen so viele Feuer 
vor als jetzt! Ich werde die ganze Nacht hindurch nicht mehr schlafen können, aber 
was liegt dir daran, wenn es nur heißt: „Der Herr Griesmeier, der ist generös! 
Wer fünf Gulden haben will, der braucht nur zu ihm zu gehen!" . . . Deme Frau 
und fünf Kinder können alle miteinander lebendig in ihren Betten verbrennen, was 
uns noch ganz sicher passiert, weil wir die Assekuranz nicht erneuern können. Und 
nach so vielen Jahren, die wir versichert waren! . . . Aber wie kann man sich noch 
affekurieren, wenn man gleich fünf Gulden auf einmal zum Fenster hinauswirft? 
Rauch ist auch int Zimmer. Freilich; ist es zu wundern? Schon seit wenigstens 
acht Tagen sollte der Ofen ausgeputzt werden . . . Pfui. Es ist zum Ersticken . . . 
Bah, was liegt meinem Herrn Gemahl daran, wenn er mich morgen früh tot tut 
Bette findet! Im Gegenteil, dann kann er erst recht das Geld fünfguldenwets aus« 
leihen und er wird sich freuen, meiner los zu sein. 
Hörst du die Maus, die im Zimmer umherläuft? . . . Ich höre fte, tch! . . . 
Ich wollte, sie wäre groß genug, um dich aus dem Bette herauszureißen. „Man 
muß eine Falle aufstellen." Das ist allerdings das einfachste, aber wo das Geld 
hernehmen, um eine zu kaufen, wenn man alle Tage fünf Gulden einbüßt? 
Horch! . . . Höre ich nicht unten lärmen ? . . . Es würde mtch mcht wundern, 
wenn Diebe im Haufe wären. Es kann vielleicht auch nur die Katze sein, aber die 
Diebe werben nicht ausbleiben. Die hintere Haustüre schließt sehr schlecht, aber kann 
man bas Schloß richten lassen ober einen Riegel kaufen, wenn gewisse Leute fünf 
Gnlben wie fünf Kreuzer ausgeben? . - 
6*
	        
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