Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1904 (1904)

L) 
Gardinen-Mredigten der Frau Ursula Griesmeier. 
' Von unerschöpflicher Geduld, die teilweise in der Ueberlegenheit seines Ver¬ 
standes, teilweise aber auch in dem Phlegma seines Temperamentes ihren Grund hatte, 
gehörte Herr Ignaz Griesmeier zur Sorte jener seltenen Männer, die bei ihrer Geburt 
von der Mutter Natur in einer Anwandlung ganz besonderer Güte gegen die Frauen 
mit einem solchen Grade von Friedfertigkeit ausgestattet werden, daß auch die schlimmste 
Mau nicht im Stande ist, sie aus der Fassung zu bringen. Eine der Hanpttngenden 
solcher Männer besteht in der Gutmütigkeit, mit der sie die schärfsten GarÄnenpredigten 
über sich ergehen lassen und gerade in dieser Beziehung wäre es schwer gewesen, 
Herrn Griesmeier zu übertreffen. Er war für seine Frau ganz Ohr, während sich 
bei letzterer die Tätigkeit aller Lebensorgane in den Lippen zu vereinigen schien. 
Die wichtige Frage, ob der Tag oder die Nacht geeigneter sei, den moralischen 
Eindrücken eine ausdauernde Kraft zn verleihen, entschied Fran Ursula Griesmeier 
dahin, daß unbedingt die im Dämmerlichte einer Nachtlampe gehaltenen Reden von 
größerer Wirkung seien, namentlich ihrem Gatten gegenüber, der in seiner Eigenschaft 
als Strumpfwirker viel zu sehr von seinen Geschäften in Anspruch genommen war, 
um unter Tags ihren Predigten die gehörige Aufmerksamkeit schenken zu können. 
Nachts war sie sicher, daß ihrem Ignaz kein Ausreißen möglich sei, daß ihm nichts 
übrig blieb, als ruhig liegen zu bleiben und sie ohne Unterbrechung anzuhören. 
Während der 30 Jahre, die Herr Ignaz Griesmeier an der Seite seiner 
moralisierenden Gattin verlebte, lag ihm, seine geliebte Ursula fortwährend in den 
Ohren. Welch einen Schatz von Weisheit hatte er in feinem Gehirne sammeln 
können! . . . Welch ein Verlust für die Nachwelt, wenn mit seinem Tode dieser Schatz 
verloren gieng! ... 
Aber Herr Griesmeier war nicht so eigennützig, nur an sich allein zu denken; 
er hatte, als er Witwer geworden, die menschenfreundliche Idee, die letzten Abend¬ 
stunden seiner Existenz dahin zu verwenden, daß er die denkwürdigen Worte seiner 
Gattin zu Papier brachte, um sie zu Nutz und Frommen aller jener zu hinterlassen, 
die, von der Vorsehung weniger begünstigt als er, nicht mit einer Gattin, wie die 
1 einige, bedacht wurden. 
. d?ach dem Tode des ehrlichen Mannes fand man ein Manuskript unter seinen 
übrigen Papieren mit der Inschrift: 
„Sammlung der nächtlichen Predigten, die während einer 30jährigen, glücklichen 
Ehe von Frau Ursula Griesmeier gehalten und von ihr,nt Gatten Ignaz angehört 
wurden." ' 
Wir waren so glücklich, dieses kostbare Manuskript in unseren Besitz zu be¬ 
kommen und glauben im Sinne des geehrten Verfassers zu handeln, wenn wir 
wenigstens einiges davon hiemit veröffentlichen. —
	        
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