Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1904 (1904)

schon längst aus einem Kloster gerufen unb waltete mit engelgleicher Gebiilb unb 
Liebe ihres aufreibenden Amtes. Was wird das Neujahr bringen? Das alte neigte 
zu Ende — unheimlich still schlich es im Exzellenzhause dahin — einige Stunden 
noch unb er wirb zu ben Toten zählen. _ „ r,, „ 
Wirb es nicht etwa bie Exzellenz mitnehmen? Fast schien es jo. Die zu hoffen 
unb zu fürchten haben, gehen aus unb ein im Ministerhaufe. Den .Kopf gesenkt 
ober stolz erhoben, huschen sie bie teppichbelegten Gänge hman tn bas Sprechzimmer. 
Weiter kommt keiner. Zum Minister haben nur Aerzte Zutritt unb Schwester 
Philomena. Draußen brennen bereits bie Gaslaternen, bie Auslagefenster strahlen 
in wunberbarer Beleuchtung. Lachend, schauend, stanenb wogt bie schöne Straße 
entlang ein Menschenschwarm; hier ein lustiges Treiben am Sterbetage des alten 
Jahres, oben ein totes Leben am Neujahrsgeburtstag . ... . 
Die Minuten rinnen wie Blei zäh dahin; sie gehen und nehmen immer mehr 
Hoffnungen mit für die einen, die nächsten heben die der andern auf; es sind Borse- 
minuten, nerüenaufregend, markzehrend. Die Exzellenz hat das Maß verloren für 
«eit und Raum Das große Schlafzimmer scheint ihm immer kleiner, immer enger 
zu werben, so klein, so eng, wie eine Stunden schwanden manchmal 
wie Minuten, bann aber würben sie wieber lang, lang, wie Ewigkeiten. . . • -Ser 
Arzt steht mit ber golbenen Sackuhr in ber Hand neben beut SJette. Er mißt Die 
Sekunden. Es war ein letzter gewagter Versuch. Die Krisis ist da. Wirkt sein 
Versuch ist er ein — „neuer" Mann im alten Jahr, wenn nicht ein alter (abge¬ 
taner) int neuen. Der Kranke schläft etwas. Schwester Philomena kniet betend 
neben einem schönen Kruzifix und einer ebenso wertvollen Madonna. Ungeduldig 
schaut der Arzt aus die Uhr. Es ist nahezu 11 Uhr nachts. Der Kranke schlummert 
ruhig weiter. Man merkt, es vollzieht sich eine Aenderung tn seinem Zustande 
Im Antlitze des Doktors zeigt sich eine wachsende Röte, int ganzen Benehmen 
eine gesteigerte Unruhe. Sein Auge ruht wie das eines Adlers aus der Beute des 
Todes. Aber sein Herz fühlt es, sein Verstaub sagt, er werbe bie Exzellenz retten. 
Schweißtropfen treten hervor ant Gesichte, am Halse bes Kranken, bae Fiber geht 
lurüd — bie Herztätigkeit nimmt zu. „Gott sei Dank! mein Herz hat mich nicht 
getäuscht," sprach ber Doktor zu sich. „Schwester Philomena," Wisperte er, „wir 
dürfen wieber hoffen. Exzellenz sängt an, zu genesen. „Dann habe ich vielleicht 
boch nicht umsonst gebetet, Herr Doktor!" gab sie flusternb zur Antwort, „^ch gehe 
setzt nach Hanse, meine Gegenwart ist für eine kurze Zeit nicht nötig. Wir feiern 
in ber Familie Syloesterabenb, eigentlich Neujahrsgeburtstag, ^sch werbe ohnehin 
schon sehr vermißt worben sein. Wenn bie Exzellenz aufwacht, trocknen sie ihm ben 
Schweiß von ber Stirne unb suchen sie ihn zu trösten. Sie können ja so gut um- 
gehen bannten ^ @ aufgehäuft, um bas Geräusch der Wagen abzu¬ 
schwächen; im ganzen Haufe war jede Störung ber Ruhe strenge untersagt Trotz« 
betn hörte bie Schwester, wie sich's rührte in ben stillen Raumen und nach einigen 
Minuten ein Wagen in raschem Lause davonrollle. Nun war die Schwester allem 
mit dem Kranken. Auch ber Kammerdiener hatte Urlaub für eine Stunk vom 
Doktor erhalten. Eben schlug es 12 Uhr an der Turmuhr, als der Minister er¬ 
wachte. Jetzt hat aber die Exzellenz gut geschlafen? jetzt wird s auch bald besser 
werben," "flüsterte freubig bie Schwester. „Wünschen Exzellenz etwas? ^ch werbe 
Ex .ellenz bie Schweißtropfen von ber Stirne abtrocknen, Exzellenz haben ganz tüchtig 
aeschwitzt so, unb im Gesichte unb im Halse auch." „Schwester, Sie fontmen nur 
beute ganz anders vor, wie früher. So blaß unb abgemübet. Sie müssen sich mehr 
schonen, Schwester Philomena," hauchte mehr als erschrocken ber Kranke. „Das
	        
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