Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

Die Unterhaltung war bereits in vollem Gange, als abermals das laute 
Bellen des treuen Wächters von draußen hereinscholl. 
„Was ist denn nun wieder los!" rief Franz im Hinausgehen. 
Gertrud eilte dem Gatten nach, und stieß einen Schrei der Ueberraschung aus, 
so daß auch noch der Doktor neugierig folgte. Dann führten sie eine wankende, 
schwarzgekleidete Gestalt herein, und ließen die Erschöpfte sorgfältig in einen Sessel gleiten. 
Jetzt erst erkannte der Doktor die Angekommene. 
„Um Gotteswillen —, gnädige Frau —, Sie sind es —, aber wo kommen 
Sie denn her?" 
„Ja —, ich bin es," klang es in tiefer Bitterkeit von den bleichen Lippen 
Frau v. Tannheims. „Nicht wahr, Ihr staunt? Wie Ihr mich hier steht, bin ich 
ohne Obdach für die Nacht. Ich habe den Weg von der Station bis hierher zu 
Fuß gemacht, es ist ziemlich weit, und man wird müde bei solchem Schnee. Oft 
sank ich tief ein, manchmal glaubte ich, daß meine Kräfte nicht ausreichen würden. 
Es ist ein schreckliches Wetter. Aber hier ist es behaglich —, o, wie das wohl thut." 
Ein Strom von Thränen stürzte ihr aus den Augen, willenlos überließ sie sich 
ihrem ausbrechenden Schmerz. 
„Ich wußte es ja, Ihr würdet mich nicht fortweisen, wie jene, die sich meine 
Verwandten nennen —, Ihr seid gut!" 
„Wär's möglich, man hätte " 
„Ja, ja, sie wollten mich nicht behalten, obwohl ich mich auf alle Weife nützlich 
zu machen suchte, gaben sie mir deutlich zu verstehen, daß ich ihnen zur Last sei!" 
schluchzte Frau v. Tannheim. 
„Aber warum tarnen Sie denn nicht längst zu uns?" rief Gertrud erschüttert, 
und tnieete neben der Weinenden nieder. „Sie mußten doch wissen, daß wir Sie 
mit tausend Freuden aufnehmen würden." 
Sie warf, während sie sprach, ihrem Gatten einen halb besorgten Blick zu, um 
sich zu überzeugen, daß er mit ihrem Thun einverstanden sei. Er begriff sofort, 
was sie meinte, und nickte lächelnd Gewährung. 
„Ein letzter Rest ehemaligen Stolzes hielt mich ab, zu Euch zu kommen," fuhr 
Frau v. Tannheim fort, „ach Gertrud, Du weißt nicht, was ich gelitten habe all' 
die letzte Zeit! Das Leben wurde mir zur Qual, ich konnte die Demüthigungen 
nicht länger mehr ertragen. Deßhalb flüchtete ich mich hierher! Du bist meine letzte, 
einzige Hoffnung, hätte auch die mich betrogen, ich weiß nicht, was aus mir 
geworden wäre!" 
„Beruhigen Sie sich, liebe, gnädige Frau," sagte Gertrud, „Sie sollen fortan 
bei uns wohnen, und ich werde mich bemühen, Ihr Leben so angenehm als möglich 
zu gestalten. Nicht wahr, Franz?" wandte sie sich an den Gatten. 
„Das ist doch selbstverständlich," fiel dieser eifrig ein. „Wir schulden Ihnen 
ja so viel Dank, und es gewährt mir eine große Genugthuung, etwas davon abtragen 
zu können!" 
„O sprecht nicht davon, Ihr beschämt mich. Biel Plage sollt Ihr nicht mit 
mir haben, verwöhnt bin ich wahrhaftig jetzt nicht mehr." 
Heftig bewegt streckte Frau v. Tannheim dem alten Freunde Dr. Rottner tue 
Hand hin, die dieser mit festem Drucke ergriff. 
„Sehen Sie, Doktor —, nun bekomme ich boch noch metnen Gotteslohn!" 
„Ja," nickte ber Angerebete, seine Rührung nieberfämpfenb, „ich hab's gewußt, 
Gott borgt manchmal lange, aber er zahlt sicher." 
Heute langweilt Frau v. Tannheim sich nicht mehr. Es gibt genug für sie 
zu thun. Ost sieht man sie an ber Seite bes Doktors bie Kranken unb Armen be-
	        
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