Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

72 
stummen Zuhörerin. Man sah es dem gütigen Manne an, daß er Trost und frohe 
Zuversicht in die Herzen der Leidenden und Verzagten zu gießen verstand. 
„Was Sie mir da erzählen, ist alles schön und gut, lieber Doktor —, gewiß —, 
aber was könnte ich denn thun? Ihre Arbeit ist doch nicht die meinige?" entgeg. 
riete Emma leise. 
„O, an Arbeit soll es Ihnen niemals fehlen, meine liebe, gnädige Frau!" fiel 
der Doktor eifrig ein, „ich weiß sogar sehr viel Arbeit für Sie, eine segensreichere 
Thätigkeit kann es kaum geben, passen Sie auf, was Ihnen mit der Zeit für Freuden 
daraus erblühen!" 
„Nun?" fragte Emma erwartungsvoll, als er einen Moment schwieg. 
„Begleiten Sie mich doch auf meinen Gängen zu den armen Kranken und 
Nothleidenden! Ich sage Ihnen, da gibt es viele Thränen zu trocknen, viele Seufzer 
zu stillen, viele Noth zu lindern! Hätte ich nur immer sechs Hände statt zwei, wie 
wollte ich sie rühren! Die Kinder waschen, wo die Mutter krank ist, Suppe kochen, 
aufräumen, die Wohnung in Ordnung bringen, glauben Sie mir, Sie würden nie 
mehr über Langeweile klagen." 
Emma überfiel ein Grauen. 
„Puh!" sagte sie, „welche Znmuthung! Es ist ja entsetzlich, was Sie da alles 
verlangen! Ich sollte schmutzige Kinder waschen, zu den Kranken gehen, damit ich 
mir etwa eine ansteckende Krankheit hole! Das haben Sie doch nicht in Ernst gemeint?" —- 
„Und warum nicht? „Baue dir zum Glück mit eigner Hand die Brücke, 
beglücke du —, so wirst du glücklich sein!" — Fürwahr, das ist ein schönes Wort, 
und wer es erprobt hat, der erkennt seine Wahrheit!" 
Eine kleine Pause entstand. Frau Emma schien über dieser Unterhaltung ihre 
Schmerzen und Klagen völlig vergessen zu haben. Sie saß jetzt aufrecht, die ge¬ 
wöhnlich matt blickenden Augen hingen gespannt an des Doktors Gesicht. 
„Beglücke du —, so wirst du glücklich sein," wiederholte sie leise. Sie war 
ganz in Gedanken versunken, während der Doktor ein Zeitungsblatt aus seiner Tasche 
zog und es vor Emma ausbreitete. 
„Was haben Sie denn da wieder?" fragte sie. 
„Auch eine Gelegenheit, Gutes zu wirken, ohne besondere Anstrengung," be¬ 
merkte er trocken und wies mit dem Finger auf eine blauunterstrichene Stelle. 
„Welcher edle Menschenfreund wäre geneigt, ein etwa fünfjähriges Mädchen, 
dessen Mutter jüngst gestorben, um Gotteslohn bei sich aufzunehmen? Der 
Vater, ein armer Taglöhner, sieht sich außer Stande, seine fünf Kinder richtig 
zu erziehen!" 
Frau Emma hatte halblaut gelesen und schaute wieder auf den Doktor, ihre 
Lippen kräuselten sich etwas spöttisch. 
„Ich finde diese Annonce höchst geschmacklos", bemerkte sie. — „Um Gottes¬ 
lohn." 
„Danke gehorsamst!" 
„Weshalb Sie?" 
„Weil — ich selbst diese Annonce in die Zeitung setzen ließ." 
„Ah — so, wie kommen Sie denn dazu?" rief Emma überrascht. 
„Sehr einfach. Dem armen Konrad Grüner, der drunten im Dorf das letzte 
Häuschen bewohnt, starb jüngst seine Frau. Die Leute hatten so wie so nicht viel, 
aber die Frau war lange krank gelegen, der Mann ein Taglöhner, mußte um des¬ 
willen manche Arbeit versäumen, alles kostet Geld, und so zog bittere Noth und 
Armuth in die Hütte ein. Ich that, was ich konnte, aber die andern Armen warten 
auch auf Unterstützung. Ich hätte mir gern selbst eines von den Kindern in's Haus
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.