Volltext: Leibniz und seine Schule [2. Band] (2,2 / 1867)

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auch nicht die Vernunft im Sinne der dogmatischen Philosophie, 
denn diese sogenannte Vernunft ist vom Verstände nicht wesent 
lich unterschieden; der Verstand macht aus den sinnlichen Vor 
stellungen Begriffe, die Vernunft bildet aus diesen Begriffen 
Urtheile und Schlüsse: sie entspringt mithin aus der Sinnlich 
keit, als aus ihrer Wurzel, und was sie entwickelt, kann daher 
nur sinnlicher Natur sein. Aus Sinnlichem kann nur Sinnli 
ches hervorgehen. Und wie sich die menschlichen Sinne nur dem 
Grade nach von den thierischen unterscheiden, so besteht auch zwi 
schen dem menschlichen Verstände, der sich auf Sinnlichkeit grün 
det, und dem thierischen keine absolute Differenz. Aber diese 
Differenz besteht, wenn es im Menschen ein Vermögen des 
Uebersinnlichen giebt, welches die demonstrative Vernunft 
niemals sein oder werden kann, welches lediglich in der fühlen 
den Vernunft besteht*). Daß in der That ein solches Ver 
mögen des Uebersinnlichen in der menschlichen Seele existirt, be 
weist die Thatsache der Religion, wodurch sich der Mensch ahnend, 
fühlend, erkennend zu dem Ewigen erhebt, die Thatsache der 
Freiheit, kraft deren der Mensch schlechthinniger Anfangspunkt 
seiner Handlungen sein kann. Wäre er nur ein höheres Thier, 
so wäre die Religion wie die Freiheit, der Gottesglaube wie das 
Selbstgefühl schlechterdings unmöglich. Wären sie unmöglich, 
wie könnten sie sein, wie könnten sie selbst in verkümmerter Ge 
stalt existiren? 
Die Verstandesphilosophie vermochte nicht, diese Thatsachen 
zu erklären; deßhalb war sie gezwungen, wenn sie folgerichtig 
sein wollte, dieselben zu verneinen. An die Stelle Gottes setzte 
sie die Natur d. h. den Mechanismus der Kräfte, an die Stelle 
der Freiheit die Naturbestimmung d. h. den Mechanismus der 
*) Einleitung in sämmtl. philos. Schriften. Werke. Bd. II. S. 7, 8.
	        
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