825
reu Regionen des menschlichen Geistes mit verwandtem Auge zu
schauen, er hatte die große Gabe, sich ein fremdes Gemüths
leben und fremde Phantasien anzuempsinden, und die Gefühlsfä-
dcn seiner Seele erstreckten sich oft mit wunderbarem Tact in die
verborgenen Tiefen des menschlichen Geistes, die sich dem rein
logischen Verstände nicht offenbaren.
Darum waren es besonders die Bildungszustände der Reli
gion und Poesie, in denen sich Herder's Geist unmittelbar hei
misch fühlte. Und wie er ganz im Charakter seiner Geistesver
wandtschaft mit Winckelmann und Lessing für das Ursprüngliche
und Eigenthümliche der Erscheinungen einen intuitiven Sinn hatte,
so richtete sich Herder auf die elementaren Zustände der Religion
und Poesie. Der kindliche Glaube der Menschheit und die Volks
poesie aller Zeiten zogen ihn an; er wußte sich mit diesen Erstge
burten des menschlichen Genius in eine poetische Wahlverwandt
schaft zu setzen, und so entdeckte Herder geradezu ganze Reiche
der menschlichen Bildung, welche die frühere Aufklärung kaum
beleuchtet oder gar verdunkelt hatte. Er entdeckte den Genius in
der Religion und Poesie des morgenländisch-hebräischen, des nor
disch-heidnischen, des christlich-romantischen Geistes. Er wußte
die Religion poetisch zu genießen und mit dem alten Testamente
eben so vertraut als mit Ossian zu verkehren. Darin ergänzte
Herder vortrefflich Winckelmann und Lessing, denen das classische
Alterthum mehr verwandt war. In diesem Triumvirat unserer
Aufklärung finden sich die Richtungen vereinigt, welche später
in die Gegensätze des Classischen und Romantischen auseinander
gehen sollten.
Was Winckelmann dem Alterthum und der bildenden Kunst
gewesen war, suchte Herder für Poesie und Christenthum zu wer
den. Wenn Reimarus aus logischen und moralischen Gründen