821
die künstliche Bildung abgeschwächt ist? Was ist der Mensch,
wie er unmittelbar aus der Hand der Natur und aus der Hand
Gottes hervorgeht? Offenbar ist der Mensch in dieser Unmittel
barkeit Gott und der Natur am nächsten verwandt; alle seine
Gemüthskräfte sind hier noch in voller, ungebrochner Einheit
bei einander; noch hat sie der Mechanismus der Bildung nicht
abgespannt und entzweit.
Dieser ursprüngliche menschliche Mikrokosmus schwebt der
speculativen Einbildungskraft des Zeitalters vor als das Urbild
der Menschheit, als der Genius der menschlichen Natur, den
man in seiner Originalität wiederherstellen, wiederbeleben, zu
dem man aus dem gegenwärtigen, aller ächten Ursprünglichkeit
entfremdeten Bildungszustandc zurückkehren müsse. „Man sehnt
sich nach des Lebens Büchen, ach! nach des Lebens Quelle
hin!" Mit diesen Worten ist der Geistesdrang dieser Zeit aus
gesprochen, deren Züge nirgends gewaltiger und hinreißender aus
geprägt sind, als in dem göthe'schen Faust, der aus eben jenem
Drange hervorging.
Die menschliche Natur in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer
Einheit! Die menschliche Natur als der lebendige Spiegel des
Weltalls! Das ist sie nur in ihren kindlichen, kleinen, dunkeln
Vorstellungen, wodurch Leibniz den Zusammenhang zwischen Na
tur und Geist, das continuirliche Stufenreich der Kräfte, die
Harmonie des Universums erklärt und die Geltung des Indivi
duums als eine Welt im Kleinen gerechtfertigt hatte*).
Nun können wir das Ganze nur vorstellen und desselben nur
innesein in der Weise der dunkeln Erkenntniß. Das dunkle Be
wußtsein ist das Gefühl. Der usprüngliche Mensch ist der füh-
*) Vgl. oben Cap. X. des vorigen Buchs. S. 549—567,