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nachtheilig geworden. Nicht den Spekulationen: dem Unsinn,
der Tyrannei, diesen Speculationen zu steuern; Menschen, die
ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vor
wurf zu machen. Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese
höchsten Stufen der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen?
Nie? Nie? Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger!
Die Erziehung hat ihr Ziel: bei dem Geschlechte nicht weniger,
als bei dem Einzelnen. Was erzogen wird, wird zu Etwas er
zogen. Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die
Zeit der Vollendung — die Zeit eines neuen ewigen Evange
liums, die uns selbst in den Elementarbüchern des neuen Bun
des versprochen wird. Gehe deinen unmerklichen Schritt, ewige
Vorsehung, nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht
verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst
deine Schritte mir scheinen sollten, zurückzugehen! Es ist nicht
wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist*)."
So bildet der Begriff der Entwicklung, der von dem ächten
Geiste der leibnizischen Lehre abstammt, den Gesichtspunkt, unter
welchem Lessing die Religion betrachtet und die Religionen be
urtheilt. In diesem Begriff, den er für die Geschichte fruchtbar
zu machen wußte, unterscheidet sich Lessing von Spinoza, der
den Begriff der Geschichte nicht haben konnte, und von der Ver
standesaufklärung, die innerhalb ihrer logischen Schranke nicht
geschichtlich zu denken vermochte. Von dieser Seite hat die Ver
standesaufklärung ihren Lessing niemals begriffen. Es ist in die
ser Rücksicht sehr charakteristisch, daß Mendelssohn gar nicht glau
ben wollte, Lessing habe die Sätze über die Erziehung des Men
schengeschlechts geschrieben. So wenig kannte er den Geist und,
was er niemals hätte verkennen sollen, den Styl seines Freundes.
*) Erziehung des Menschengeschlechts. §.76 flgd. 33b. X. S. 325slgd.