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heit der menschlichen Cultur, durch den physischen und morali
schen Bildungsgrad des menschlichen Geistes. Auch abgesehen
von jenem tiefern Princip, wonach jede Religion ihrem letzten
Grunde nach wirklich Offenbarung ist und darum in geoffenbar
ten Religionen erscheint, würde sich dennoch unter dem Zwange
einer geschichtlichen Nothwendigkeit die natürliche Religion in eine
geoffenbarte, die Vernunftreligion in eine positive verwandeln
müssen. Lessing hat diese geschichtliche Nothwendigkeit secundä-
ren Ranges nicht übersehen. Wenn in der Erziehung des Men
schengeschlechts die ewige Wahrheit der geoffenbarten Religionen
erklärt wird, so beleuchtet ein fragmentarischer Aufsatz des lessing-
schen Nachlasses die zeitliche Entstehung derselben. Aehnlich wie
Rousseau aus dem Naturzustände den Staat ableitet, will Les
sing aus der natürlichen Religion die positive entstehen lassen.
Die natürliche Religion nämlich müßte so mannigfaltig und so
verschieden sein, als die Individuen selbst. Das gesellschaftliche
Bedürfniß, welches die Vereinigung der Individuen erzwingt,
muß auch eine Vereinigung der religiösen Meinungen erzwingen
und so eine conventionelle Religion herbeiführen, die eben so posi
tiv als die bürgerliche Gesetzgebung sein will und, um ihre Auto
rität zu sichern, das Ansehen einer geoffenbarten behauptet. Die
geschichtliche Nothwendigkeit, die einer solchen Religion inwohnt,
nennt Lessing ihre innere Wahrheit, und er schließt daraus, daß
alle positiven Religionen gleich wahr und gleich falsch sind. Wie
Spinoza denjenigen bürgerlichen Zustand für den besten erklärte,
welcher dem natürlichen am nächsten kommt, so erklärt Lessing
diejenige positive Religion für die beste, welche mit der natürlichen
am meisten übereinstimmt*). Indessen kann diese Ableitung der
*) Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion. Bd. XI.
P. 607 stgd.