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gegen die Natur des Menschen. In diesem großen und tiefsinni
gen Verstände war Lessing, so sehr er die Wahrheit liebte und
die Rechte der Vernunft vertheidigte, ein Gegner jeder erzwunge
nen Aufklärung, wie es in seinem Zeitalter die josephinische war,
die ebenso ungeschichtlich handelte, als die Verstandesaufklärung
ungeschichtlich dachte*). Eine solche Aufklärung ist nicht Auf
klärung, sondern Aufklärerei.
b. Offenbarung als Erziehung.
Die Geister wollen nicht übertrieben, sondern gereist wer
den. Der einzig vernunftgemäße Weg, der langsam, aber sicher
dem Ziele der Menschheit entgegengeht, ist die allmähliche Bildung,
die nicht in Sprüngen, sondern in Stufen fortschreitet und jede
höhere Stufe des menschlichen Geistes aus der frühern als deren
natürliches Gesammtresultat hervorgehen läßt. Die Entwicklung
des einzelnen Individuums nennen wir Erziehung. Auch das
Menschengeschlecht verlangt eine analoge Entwicklung; es will zu
seiner Bestimmung erzogen werden. In der Erziehung empfan
gen wir von Andern, was aus sich selbst zu erzeugen, unsere
Vernunft noch nicht stark und selbständig genug ist. Aber wir
empfangen Nichts, das unserer Vernunft widerspricht; wir em
pfangen die Vernunftwahrheiten nur so, daß sie unserer noch un
selbständigen und kindlichen Vernunft begreiflich werden. Und
die Menschheit sollte nicht ebenso erzogen werden? Sie sollte
nicht eben derselben Erziehung bedürfen? Was wir von Andern
empfangen, wird uns offenbart; jede Erziehung ist in diesem
Sinn Offenbarung. Wenn wir die Offenbarung, welche das
einzelne Individuum erfährt, Erziehung nennen, so soll die Er
ziehung, die dem Menschengeschlechte zu Theil wird, Offenba-
*) Etwas, das Lessing gesagt hat. Fr. Heim. Jacobi's
Werke. Bd. II. S. 325flgd.