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vorherbestimmte Harmonie, die durch Gott, als die natürliche,
die durch die kleinen Vorstellungen erklärt wurde. Die Theo-
dicee, welche die Lehre von der Weltharmonie unter den geläu
figen Religionsbegriffen darstellte, veröffentlichte Leibniz, obgleich
Bayle, den sie bekämpfte, schon todt war. Und er hätte die
neuen Versuche deshalb, wie er vorgab, nicht veröffentlichen wol
len, weil Locke, den sie mit so vieler Anerkennung bekämpften,
nicht mehr lebte? Vielleicht ließe sich die Entwicklungsgeschichte
der leibnizischen Philosophie so bestimmen, daß ihr exoteri
scher Geist durch Wolf und dessen Schule verbreitet, ihr eso
terischer dagegen durch Lessing und Herder in die deutsche Auf
klärung eingeführt wurde, und daß dieser Wendepunkt bezeichnet
ist durch die Veröffentlichung der neuen Versuche, die erst ein hal
bes Jahrhundert nach dem Tode ihres Urhebers erschienen. So
umsaßt Leibniz das Zeitalter unserer Aufklärung nicht bloß dem
Geist, sondern auch der Zeit nach, weil das Schicksal sein wich
tigstes Werk, den eigentlichen Schlüssel seiner Philosophie, erst
einer spätern Epoche übergeben wollte.
5. Widerspruch im Begriff Gottes.
Die menschliche Verstandeserkenntniß befindet sich in der leib
nizischen Philosophie auf einer mittlern Höhe, die einen be
schränkten Gesichtskreis beherrscht. Unter sich blickt sie in die
dunkle Tiefe der menschlichen Seele, über sich die unbegreiflichen
Mysterien des göttlichen Geistes. Diesseits die unbewußte, ge
heimnißvolle Individualität, jenseits die übervernünstige, ge-
heimnißvolle Gottheit, die beide der klaren Verstandeseinsicht ge
genüber irrational sind. So vermischt mit dem Irrationalen,
muß die klare und deutliche Erkenntniß der leibnizischen Philoso
phie in innere Widersprüche gerathen, welche die Grundlagen des