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II.
D i e deutliche Vorstellung der Harmonie.
1. Vernunft- und Erfahrungswahrheiteii.
Daß die Möglichkeit der Erkenntniß gewisse ursprüngliche
oder angeborne Ideen in uns voraussetzt, sei bewiesen. Welches
sind diese angebornen Ideen? Jede Erkenntniß ist ein Satz oder
ein Urtheil; in einem wirklichen Erkenntnißurtheile muß dasPra-
dicat eine nothwendige und wesentliche Bestimmung sein, welche der
objectiven Natur des Dinges selbst zukommt. Allgemeine und noth
wendige Erkenntnisse sind Wahrheiten, und hier unterscheiden sich
deutlich zwei Classen von Wahrheiten nach dem Umfange der
Dinge, den sie beschreiben.
Begreift nämlich die Wahrheit alle möglichen oder denkbaren
Dinge in sich, so ist sie eine reine Vernunftwahrheit; geht sie
dagegen nur auf die wirklichen, in der Natur gegebenen Dinge,
so ist sie eine Natur- oder Ersahrungswahrheit, denn die natür
liche oder wirkliche Existenz der Dinge erscheint uns zunächst als
eine Thatsache der Erfahrung. Mithin bestehen alle unsre Er
kenntnisse entweder in Vernunft- oder in Erfahrungswahrheiten*).
Die Vernunftwahrheiten gründen sich auf das Princip der Mög
lichkeit (Denkbarkeit); die Erfahrungswahrheiten auf das der
Wirklichkeit (Thatsächlichkeit). Unter dem Principe der Möglich
keit verstehen wir die Bedingung, unter der allein irgend etwas
existiren oder gedacht werden kann: was dieser Bedingung ent-
die Einheit des Mannigfaltigen. (Mendelssohns sämmtl. Werke. Bd. II.
Brief 1 — 6).
*) II y a aussi deux sortes de verites, celles de raisonne-
meiit et celles de fait. Monad. Fr. 33. Op. phil. pg. 707.