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dem sie seinen psychologischen Factor, die im Schönen thätige See
lenkraft, darthut oder doch andeutet. Jedes wahre Gedicht, sagt
irgendwo Göthe, müsse dunkel sein. Er meinte damit die geheim
nißvolle Schöpfungskraft, den unwiderstehlichen Zauber, der je
dem ächten poetischen Werke, jeder ächten ästhetischen Vorstellung
inwohnt. Auf eben dieses Dunkle, Verborgene, ich will sagen
Irrationale in der ästhetischen Gemüthsstimmung deuten die leib-
nizischen Sätze. Sie wollen mit unverkennbarer Absicht die ästhe
tische Vorstellung psychologisch erklären und bilden in dieser
Hinsicht weit mehr als Baumgartens Theorie den Ausgangspunkt
für die Schönheitsbegriffe der Aufklärung.
3. Leibniz und Kant.
Diese psychologische Erklärung des Schönen nimmt schon die
Richtung auf die kritische Lehre, und sie hätte nur der Ausführung
bedurft, um Leibniz auch in der Aesthetik als den deutlich bezeich
neten Vorgänger Kants erscheinen zu lassen. Ist nämlich das
Aesthetische, wie sich Leibniz ausdrückt, eine dunkle Perception, so
ist es eine Gemüthsstimmung, und zwar als Perception der Harmo
nie eine solche Gemüthsstimmung, worin nichts als die Vorstellung
der Harmonie wirksam und gegenwärtig ist. Mithin besteht das
Aesthetische auch nach Leibniz in einer harmonischen Gemüthsstim
mung, in dem Gefühle der Lust oder Unlust, und da Stimmungen
oder Gefühle niemals durch Begriffe ausgedrückt werden können,
so durfte Leibniz so gut als Kant von dem Schönen sagen, daß
es ohne Begriff gefalle. Aber der Unterschied zwischen beiden
liegt in der Art, wie sie das Verhältniß zwischen der ästhetischen
und logischen Erkenntniß oder zwischen dem Schönen und Wah
ren auffassen. Bei Beiden besteht das Aesthetische in der gefühl
ten Zweckmäßigkeit oder Harmonie: aber bei Kant bildet dieses