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Begierde und des gemeinen Sinnengenusses. Zwischen diesem
noch ganz verhüllten und jenem schon völlig entwickelten Zustande
giebt es einen Helldunkeln Uebergangspunkt, ein elair-obseur,
worin dem Geiste die reinen Formen wahrnehmbar werden.
Hier bildet sich in der menschlichen Seele eine dunkle Perception
der harmonischen Ordnung, ein Formgefühl, welches von der
bloß sinnlichen Vorstellung eben so sehr als von der rein logischen
unterschieden werden muß. Denn die sinnliche Vorstellung be
schränkt sich auf den körperlichen Eindruck, die logische verlangt
die deutliche Einsicht des Gegenstandes. Nun giebt es eine Form
betrachtung der Dinge und einen Formgenuß, wozu sich der Sin
neseindruck niemals erhebt, und die sich durch die logische Zerglie
derung in die wissenschaftliche Deutlichkeit der Theilvorstellungen
auflöst. Diese Formbetrachtung ist die ästhetische Vorstel
lung; dieser Formgenuß das ästhetische Vergnügen.
„Die Musik," sagt Leibniz, „entzückt uns, obwohl ihre
Schönheit nur in harmonischen Zahlenverhältnissen, ihr Genuß
in einem bewußtlosen, unwillkürlichen Zählen besteht. Und von
derselben Art sind die Genüsse, welche das Auge in der Betrach
tung der harmonischen Körperverhältnisse (äu»8 les proportions)
findet*)." Es wäre ein Unrecht am Geiste der leibnizischen
Philosophie, wenn wir diese Bemerkungen nur von ihrer man
gelhaften Seite verstehen wollten, wonach die ästhetische Vor
stellung wie eine bewußtlose, dunkle Mathematik erscheinen
würde. Ist die dunkle Vorstellung der mathematischen Har
monie und Form ästhetisch, so muß offenbar dasselbe von der
dunklen Vorstellung oder dem Gefühle jeder Harmonie, jeder
Form gelten. Und Leibniz ist weit entfernt, die Harmonie und
*) Principes de la nature et de la gräce. Nr. 17. Op. phil.
pg. 718.