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die Behauptung wagen, daß vielleicht die Seele selbst körperlicher
Natur sei.
Me diese Sätze gelten unter einer Voraussetzung, welche
Descartes sesthält: daß nämlich der Geist im Gegensatz zum Kör
per nur im Bewußtsein bestehe, daß alle seine Vorstellungen be
wußt, und die angebornen Ideen, weil sie allen Geistern gemein
sind, in allen Menschen immer gewußt sein müssen. Sobald
sich zeigen läßt, daß eben diese bewußten Ideen in den Meisten
nicht sind, in Andern nur allmählich entstehen, so hat Locke sein
Spiel gewonnen und Descartes, indem er ihm folgt, vollkommen
widerlegt.
Und jene Voraussetzung sollte nicht gelten? Das Wesen
des Geistes sollte nicht im Bewußtsein bestehen? Wenn sie gilt,
müssen dann ohne Weiteres die locke'schen Sätze angenommen
werden, die dem Geiste alle ursprüngliche Kraft absprechen und
seinen Inhalt allein aus der sinnlichen Erfahrung ableiten? Wenn
es keine ursprünglichen bewußten Vorstellungen giebt, soll es dar
um überhaupt keine ursprünglichen Vorstellungen geben? In die
sem Dilemma zwischen Descartes und Locke, zwischen den ange
bornen Ideen und der Erfahrung, zwischen Idealismus und
Realismus ist ein Mittelweg möglich, den Descartes bei dem
Dualismus seiner Principien nicht ergreifen konnte, den Locke
übersah, und den Leibniz aus seinem überlegenen Standpunkt
entdecken mußte.
Es ist wahr, was Locke aus der Erfahrung beweist: daß
unserm Bewußtsein die angebornen Ideen weder sogleich noch
immer gegenwärtig sind, daß unsern bewußten Vorstellungen die
sinnlichen vorangehen, daß überhaupt in unserm Geiste die Er
kenntniß nicht unmittelbar gegeben ist, sondern allmählich ent
steht. Das ist eine Thatsache, der Niemand widersprechen kann,