Volltext: Jugend-Liederbuch [18]

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Aus der Kindheit. 
... Es war einmal im Herbst. Ich mußte scheiden 
Vom Vaterhaus, zehn Jahre alt noch nicht, 
Und gab zum Ausdruck meiner Abschiedsleiden 
Dem kleiner: Schwesterlein meirr erst Gedicht. 
Sie nahm's und dann mit freudigen Gebärden 
Wand Blumen sie zum Kranz aus ihrem Haar: 
„Mein Brüderchen, du mußt ein Dichter werden" 
Sprach sie und reichte ihren Kranz mir dar. 
Ich nahm den Kranz. Ein namenloses Sehnen 
Nach Welt und Heimat war in mir erwacht, 
Dann sprach zum Kranz ich lächelnd unter Thränen: 
„Sei Du mein Leitstern in der langen Nacht." 
Noch einmal an der Schwester Brust gelegen, 
Sie aber brach in lichte Thränen aus, 
Dann gab mir meine Mutter ihren Segen 
Und ich zog fort und in die Welt hinaus. 
Da mußt ich erst ein hartes Schicksal tragen, 
Die Sorge und das Elend zog mich groß; 
Doch meine Träume gälte:: jenen Tagen, 
Wo ich mein erstes, bestes Glück genoß. 
Doch später, als das Leben ungemessen 
Mich trug auf seiner Wellen wildem Tanz, 
Da hätt' ich bald das Schwesterlein vergessen 
Und ihren Zukunftsspruch und ihren Kranz. 
Ich hab' sie seither nimmermehr gesehen 
Und seh' sie auch nicht mehr, denn sie ist tot, 
Nur wenn der Kindheit Träume auferstehen, 
So dämmert's auf in mir wie Morgenrot. 
Und wenn das wilde, sturmverschlag'ne Leben 
Mein Fahrzeug siegend in die Klippen zieht, 
Und mitten in des Herzens bangem Beben, 
Wo keine Liebe und kein Glaube blüht, 
Und mitten in der Nacht verhüllten Bahnen, 
Wenn jede Hoffnung, jeder Stern versinkt, 
Hör ich's im tiefsten Herzen mächtig mahnen: 
„Getrost zum Licht hinauf, die Schwester winkt." 
Alois Ebner. 
Aus „Denkblätter" des oberösterreichischen akademischen Vereines „Germania" 
in Wien 1867—1880. Alois Ebner, geb. am 25. September 1852 zu Taufkirchen 
(Jnnviertel) und dortselbst gest. am 25. November I960, begraben an der Seite seines 
Vaters, gem. Schulleiters, Professor, zuletzt in Oberhollabrunn, ein gar warmherziger 
und begeisternder Erzieher der Jugend, hinterließ hochbedeutungsvolle lyrische und 
dramatische Dichtungen seiner Familie. Siehe Linzer „Tages-Post" vom 6. Jänner 
1901 und Jahresbericht des Staatsgymnasiums in Oberhollabrunn 1901. Fiduzit!
	        
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