Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Erster Theil] (8,1 / 1901)

Der sich entfremdete und der seiner selbst gewisse Geist. 403 
liegt das Hauptmotiv der Darstellung und Widerlegung der kantischen 
Moralphilosophi'e und des moralischen Geistes überhaupt in folgendem 
Punkt: die Moralität besteht in Forderungen, nothwendigen und un 
bedingten Forderungen oder Postulaten, deren Erfüllung die Auf 
hebung und Vernichtung der Moralität ist. Die Moralität hat zu 
ihrem Ziel die Nichtmoralität! Daß der moralische Geist einen „Kreis 
von Postulaten" beschreibt und sich darin bewegt, nennt Hegel „die 
moralische Weltanschauung". Daß in diesen Postulaten „ein 
ganzes Nest der gedankenlosesten Widersprüche" steckt (Kant hatte den 
kosmologischen Beweis „ein Nest dialektischer Anmaßungen" genannt), 
nennt Hegel „die Verstellung", da der moralische Geist durch das 
Bewußtsein der Widersprüche sich genöthigt sieht, die Stellung der 
Forderungen immer wieder zu ändern, d. h. anders zu stellen oder zu 
verstellen. Das Wort ist doppelsinnig und deshalb gewählt. Das 
moralische Bewußtsein verstellt nicht bloß seine Positionen, sondern sich 
selbst, da es ihm mit den Behauptungen, die es aufstellt, nicht Ernst 
sei und sein könne? 
Das Thema der moralischen Weltanschauung ist das Verhältniß 
zwischen der Moralität und der Welt. Da die moralischen Zwecke 
unbedingt gelten und auszuführen sind, so ist vorauszusetzen, daß 
zwischen der Moralität und der Welt, als dem Schauplatze des 
moralischen Handelns, kein Gegensatz besteht, sondern Uebereinstimmung 
oder Harmonie. Diese Harmonie ist zu postuliren. Etwas postuliren 
heißt fordern, daß es als seiend gedacht werde. Die Harmonie der 
Moralität und der Welt ist das erste Postulat oder vielmehr das durch 
gängige Thema aller Postulate, in denen die moralische Weltanschauung 
besteht. 
1. Das Thema aber ist dreifach. Die Welt steht dem moralischen 
Bewußtsein gegenüber als Außenwelt oder Natur, die ihre eigenen 
Gesetze befolgt und ihre eigenen Zwecke ausführt, unbekümmert um die 
moralischen. Die moralische Gesinnung ist zugleich persönliche und 
individuelle Ueberzeugung, daher die Ausführbarkeit und Ausführung 
der moralischen Zwecke einen Zustand individueller Befriedigung, tiefer 
und dauernder Beglückung mit sich führt, der die Harmonie von 
Moralität und Glückseligkeit ausmacht und zu der Harmonie von 
Moralität und Natur gehört: sie fällt in das Gebiet des ersten 
1 Ebendas. S. 441, S. 449. 
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