Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Erster Theil] (8,1 / 1901)

896 
Der Geist. 
lebt in zwei Welten, im Jenseits und Diesseits, im Himmel und ans 
Erden, nicht etwa mit gleich getheilten, sondern mit so ungleich ge 
theilten Interessen, daß deren Uebergewicht in das irdische Diesseits 
fällt: es opfert etwas von seiner Habe und seinen Genüssen, — nicht 
alles, nur etwas, nur ein wenig, — um mit desto größerer Sicherheit 
alles andere behalten und genießen zu können. Seine Entsagungen 
sind, bei Licht betrachtet, Versicherungen, seine Opfer sind Erwerbungen, 
wohl angelegte, zinstragende Capitale. Bei Licht betrachtet! Eben 
dieses Licht hat die Aufklärung angezündet, hält es in der Hand und 
durchleuchtet das religiöse Bewußtsein bis in alle seine Winkel. Alle 
Entsagungen, sie mögen so groß oder so gering sein, wie sie wollen, 
alles Fasten und Kasteien, selbst die Entmannung eines Origines, helfen 
nichts gegen die Welt, die im Innern sitzt, d. i. die Begehrlichkeit 
und die Begierde nach Lust. Es ist naiv zu meinen, daß man auf 
solche Art, durch ein äußeres Thun oder Nichtthun im Stande sei, die 
Beschaffenheit des Willens zu ändern. „Die Handlung selbst erweist 
sich als ein äußerliches und einzelnes Thun, die Begierde aber ist 
innerlich eingewurzelt und ein Allgemeines; ihre Lust verschwindet 
weder mit dem Werkzeuge noch durch einzelne Entbehrung."* 
Im Hinblick auf dieses widerspruchsvolle Doppelleben, welches der 
Glaube führt, sagt Hegel: „Das glaubende Bewußtsein führt doppeltes 
Maaß und Gewicht, es hat zweierlei Augen, zweierlei Ohren, zweierlei 
Zunge und Sprache, es hat alle Vorstellungen verdoppelt, ohne diese 
Doppelsinnigkeit zu vergleichen. Oder der Glaube lebt in zweierlei 
Wahrnehmungen, der einen, der Wahrnehmung des schlafenden, 
rein in begrifflosen Gedanken, der andern des wachen, rein in der 
sinnlichen Wirklichkeit lebenden Bewußtseins, und in jeder führt er eine 
eigene Haushaltung, — die Aufklärung beleuchtet jene himmlische Welt 
mit den Vorstellungen der sinnlichen und zeigt jener diese Endlichkeit 
auf, die der Glauben nicht verleugnen kann, weil er Selbstbewußtsein 
und hiermit die Einheit ist, welcher beide Vorstellungsweisen angehören, 
und worin sie nicht auseinanderfallen, denn sie gehören demselben un 
trennbaren einfachen Selbst an, in welches er übergegangen ist. 
„Er ist aus seinem Reiche vertrieben, oder dies Reich ist ausgeplündert, 
in dem alle Unterscheidung und Ausbreitung desselben das wache Be 
wußtsein an sich riß und seine Theile alle der Erde als ihr Eigenthum 
vindicirte und zurückgab." ^ 
~ > Ebendas. S. 412-417. - - Ebendas. S. 418.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.