Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Erster Theil] (8,1 / 1901)

Der sich entfremdete und der seiner selbst gewisse Geist. 393 
4. Was die Eigenschaften der Volksreligion näher betrifft, so sind 
auch hier drei Seiten, welche die Aufklärung ins Auge faßt und be 
kämpft: die Glaubensobjecte, die Glaubensgründe und den Glaubens 
oder Gottesdienst, anders ausgedrückt: die religiösen Gegenstände, das 
religiöse Wissen und das religiöse Thun (Cultus). Was sie in allen 
drei Beziehungen bekämpft, ist das abergläubische Wesen, welches in 
Ansehung der Vorstellung von Gott als Anthropomorphisirung hervor 
tritt, in Ansehung der Glaubensgründe oder des religiösen Wissens 
in dem blinden Vertrauen aus einzelne, sogenannte historische Nach 
richten oder Zeugnisse besteht, endlich in Ansehung des religiösen 
Thuns oder des Cultus sich in der Verehrung einzelner sinnlicher 
Dinge, wie Stein- und Holzblöcke, eines Stückchen Brodteigs u. s. f.. 
kurzgesagt in dem „Hocuspocns taschenspielerischer Priester" darstellt. 
Auch erscheint es der Aufklärung unzweckmäßig und unrecht, daß sich 
das religiöse Thun in einzelnen äußerlichen Opfern, wie in gewissen 
Besitzesentüußerungen, gewissen Enthaltungen, Fasten u. d. offenbaren soll. 
Darin besteht durchgängig der Unwerth, das Unrecht und die 
Ohnmacht der Aufklärung gegenüber der Volksreligion, daß sie in deren 
Bewußtsein nicht einzudringen, nicht aus diesem heraus zu urtheilen 
versteht, sondern von Außen herein redet und deshalb in ihren Urtheilen 
und Verurtheilungen das Object nicht trifft, vielmehr in den Augen 
der Volksreligion als Verdrehung und Lüge erscheint. 
Die Anthropomorphisirung Gottes, welche die Aufklärung verwirft, 
gründet sich in der Volksreligon auf das tiefe und wahre Bedürfniß 
nach der Lebendigkeit Gottes, ohne welche von einer Jncarnation und 
Jnnerweltlichkeit Gottes nicht die Rede sein kann. Die Aufklärung 
aber, die alle Verendlichung Gottes, alle anthropomorphischcn Bestimmt 
heiten, die ihm zugeschrieben werden, als „ein sträfliches Beilager" ver- 
urtheilt, aus dem die Ungeheuer des Aberglaubens geboren werden, 
läßt von Gott nichts übrig als ein „Vacuum", als das sogenannte 
höchste prädicatlose Wesen «l’etre supreme», der Ausdünstung eines 
Gases vergleichbar, wie die Aufklärung selbst jenem unaufhaltsam sich 
ausbreitenden Duft. In dieser leeren Vorstellung von Gott liegt, was 
man „die Plattheit" der Aufklärung nennt, und das Geständniß dieser 
Plattheit. 1 i 
i Ebendas. @. 408, ©. 411—413. Vgl. S. 429.
	        
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