Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Erster Theil] (8,1 / 1901)

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Das Vernunftbewußtsein. 
Das einzige Organ, welches das innere, charakteristische Thun als 
ein bleibendes ausprägt und an sich hat, nicht als eine Aeußerung, 
sondern als ein Aeußeres, ist das Gesicht, der Gesichtsausdruck oder 
die Physiognomie, und das Studium der vermeintlichen Gesetze, welche 
die Beziehung des Inneren zu diesem Aenßeren beherrschen sollen, ist 
die Physiognomik. Es giebt eine natürliche, auf den Vernunft- 
instinct gegründete Physiognomik, die in den Gesichtszügen die inneren 
Vorgänge erkennt oder zu erkennen meint und es z. B. einem unmittel 
bar ansieht, ob es ihm mit dem, was er sagt und thut, Ernst ist oder 
nicht. Da aber das Selbstbewußtsein kraft seiner Freiheit sein Aeußeres 
zu beherrschen und zu unterdrücken vermag, so kann das Gesicht auch 
ein willkürliches Zeichen sein, um innere Vorgänge, Gedanken und 
Absichten sowohl zu verrathen als zu verbergen, sowohl zu bezeichnen 
als zu verheimlichen. Das Mienenspiel verhält sich zu den inneren 
Vorgängen, wie die Rede: das Gesicht ist Organ und Zeichen, die 
Physiognomie ist Gesicht und Maske; daher zwischen dem individuellen 
Charakter und dem Gesichtsausdruck keine gesetzmäßigen Beziehungen 
solcher Art herrschen, daß sie das Selbstbewußtsein nicht zerreißen könnte. 
Bekanntlich hatte I. C. Lavater in seinen „Physiognomischen 
Fragmenten" (1775—1778) die Physiognomik als den Weg genialer 
und untrüglicher Menschenkenntniß gepriesen und ihr ein außer 
ordentliches Ansehen verschafft, er hatte auch seine Gegner gefunden, 
unter denen der Physiker G. Chr. Lichtenberg in Göttingen besonders 
hervortrat; seine Polemik stützte sich auf die Macht des menschlichen 
Selbstbewußtseins und der menschlichen Freiheit. Hegel hat den Namen 
Lavater nicht genannt, wohl aber den Lichtenbergs, dessen verurtheilende 
Aussprüche er anführt und bekräftigt. Die Ansichten der Physiognomiker 
schätzt Lichtenberg als werthlose Meinungen, die in seinen Augen nicht 
höher stehen, als die Wetterkunde der Krämer und Hausfrauen. „Es 
regnet, so oft Jahrmarkt ist", sagt der Krämer. „Es regnet, so 
oft ich Wäsche habe", sagt die Hausfrau. „Gesetzt, der Physiognom 
haschte den Menschen einmal, so käme es nur auf einen braven Ent 
schluß an, sich wieder auf Jahrtausende unbegreiflich zu machen." 
„Wenn jemand sagte, du handelst zwar wie ein ehrlicher Mann, ich 
sehe aber aus deiner Figur, du zwingst dich und bist ein Schelm im 
Herzen; fürwahr eine solche Anrede wird bis ans Ende der Welt 
von jedem braven Kerl mit einer Ohrfeige erwidert werden." So 
Lichtenberg. * 
i Ebendas. S. 231, S. 233 u. 234.
	        
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