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wo er sich dann ungezwungen unter dem Volke bewegt, fast verdriesslich, wenn er bemerkt, dass die Behörde Polizei aufbietet,
wenn auch nur um die Ordnung aufrecht zu erhalten.
Woher also diese innige Vertrautheit mit den Verhältnissen des Landes? An Einflüsterungen und Ränken fehlt es gewiss
an keinem Hofe. Selbst vaterländische Parteien nehmen keinen Anstand, in erfinderischer Weise auf die sogenannten »Hofkreise«
zu Ungunsten anderer einzuwirken. Aber durch solche Canäle gelangt nichts an den Kaiser. Er spricht über ungarische Angelegen
heiten nur mit seinen ungarischen Ministern. Graf Melchior Lönyay sagte von ihm: »Der Kaiser von Oesterreich ist ein
unendlich grosser Herr. Ist er kalt, so ist er wie ein Eisberg; ist er warm, so ist er wie eine Alpe«. Kaiser Franz Joseph ist
gemessen, correct und so voll Pflichtgefühl, dass er bei jeder Handlung die beiden Wagschalen vor sich hat, die die Herrscher
würde und das Interesse der Unterthanen enthalten. Weder für die eine, noch für das andere weicht er um Haaresbreite vom
Richtigen ab. Als wäre er gar keine lebendige Gestalt, sondern ein mathematisches Gesetz, das den Gang der Dinge einer
Vorsehung gleich lenkt.
DER KAISER IM RAUCHZIMMER.
Der Kaiser hält kein »Lever«, bei dem sich geschwätzige Höflinge einfinden. Bei ihm legt ein Ohrenbläser keine Ehre
ein. Seine Tage verfliessen in Arbeit und männlichem Sport. Günstlinge haben unter ihm niemals regiert; er war wohl diesem
und jenem mehr gewogen, aber an keinen klammerte er sich hartnäckig; wenn seine Stunde schlug, Hess er es geschehen, dass
der Lufthauch der Verfassung ihn hinwegwehte.
Wenn also der Kaiser in den ungarischen Angelegenheiten so bewunderungswürdig orientiert ist, muss dies zweifellos auf
sein fleissiges Zeitungenlesen, auf seine grossen Regierungstalente und auf das ausserordentliche Interesse zurückgeführt werden, mit
der seine Seele alle Eindrücke gleichsam einsaugt, die eine Schwächung oder Stärkung des grossen Ausgleichswerkes bedeuten.
Die Ofner Hofhaltung ist natürlich geräuschloser, farbloser und gemessener als die Wiener. Erzherzoge und Botschafter
sind nicht anwesend, die Lebensweise des Kaisers aber ist noch stiller. Nur seine Arbeitslust ist gleich, wo immer er sich befinde.
Tag für Tag bringt der Hof-Courier massenhaft Acten zur Erledigung. Die Agenden haben sich gehäuft. In der Cabinetskanzlei
liegt eine endlose Liste mit Anmeldungen zur Audienz, darunter geheime Räthe und Kämmerer, die der Etikette gemäss