Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (10, Die Neueste Geschichte / 1929)

§ 6. Das wirtschaftliche und geistige Lehen 
Schule dem jüdischen Intellekt zum Vorteil gereichte, beeinträchtigte 
sie das jüdische Nationalbewußtsein. 
Mischehen und Taufen: Den nächsten Schritt auf dem Wege zur 
Assimilation bildeten die Ehen zwischen Juden und Christen. Die Zahl 
solcher Ehen war in der hier behandelten Epoche in stetem Steigen 
begriffen. Bis zum Jahre 1880 machten die Mischehen in Preußen 
den zehnten Teil der rein jüdischen Ehen aus, von da ab nahm aber 
ihre Zahl fortwährend zu, so daß im Jahre 1899 bereits jede fünfte 
der von Juden und Jüdinnen eingegangenen Ehen eine Mischehe war. 
In der ersten Zeit waren es zumeist Jüdinnen, die Christen heirateten, 
gegen Ende dieses Zeitraums wurden hingegen Ehen zwischen Juden 
und Christinnen häufiger. Die Kinder aus solchen Ehen wurden in 
der Regel, ganz gleich, ob Vater oder Mutter nicht jüdisch waren, der 
Kirche zugeführt und gingen so dem Judentum verloren. Aber auch 
die die Assimilation besiegelnden Juden taufen wurden in dieser Zeit 
zu einer immer häufigeren Erscheinung: in der Periode 1880—1900 
hatte sich die Zahl der Taufen in Preußen um das Sechsfache erhöht 
(48o Taufen im Jahre 1900 gegen 76 im Jahre 1879). Hierbei ist 
zu beachten, daß in diesen statistischen Angaben die zahlreichen Tau 
fen der jüdischen Neugeborenen unberücksichtigt blieben, die von 
ihren sich formell noch zum Judentum bekennenden und um die zu 
künftige Karriere der Kinder besorgten Eltern der herrschenden 
Kirche zugeführt wurden. Erwägungen materieller Art waren über 
haupt für das neue Renegatentum ausschlaggebend. Ebenso wie die 
nationale Assimilation einstmals das Mittel für die Erkämpfung des 
Vollbürgerrechts gewesen war, so wurde jetzt die religiöse Assimila 
tion der Weg zu seiner Realisierung. Nur ganz ausnahmsweise nah 
men die Juden das Christentum aus Überzeugung an, sei es aus einer 
mystischen Stimmung oder aus einem gradlinigen, etwa einem 
Mommsen gerecht werdenden Doktrinarismus heraus, dem die end 
gültige Verschmelzung mit dem Deutschtum auch den Anschluß an 
das mit der deutschen Kultur unlöslich verbundene Christentum er 
forderlich zu machen schien (oben, § 1). Im Verhältnis zu der über 
eine halbe Million Seelen zählenden jüdischen Bevölkerung Deutsch 
lands fiel allerdings die Zahl von durchschnittlich fünfhundert Ju 
dentaufen im Jahr (hiervon entfielen mehr als die Hälfte auf Preußen) 
nur wenig ins Gewicht. Immerhin kam dieser Erscheinung im Zu 
sammenhang mit den sich häufenden Mischehen und der immer 
5 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. X 
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