Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

§ 4. Polen nach der ersten Teilung 
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weitere Teilungen bevorstanden. Das in den letzten Zügen liegende 
Polen warf sich unruhig hin und her und spähte nach einem Lebens 
elixier aus, indem es sich an die vom „Ständigen Rat“ ausgearbei 
teten Reglements und an die Reformen des sogenannten Vierjährigen 
Sejms klammerte (1788—1791). Im Zusammenhang mit den in An 
griff genommenen Reformen allgemeinstaatlichen Charakters wurde 
das Redürfnis wach, auch dem alten Gebrechen, der Judenfrage, ab 
zuhelfen. Die Finanzkommission des Vierjährigen Sejms ließ es sich 
angelegen sein, über die Stärke sowie über die wirtschaftlichen und 
kulturellen Verhältnisse der in Polen nach der ersten Teilung übrig 
gebliebenen jüdischen Bevölkerung genaue Erkundigungen einzuzie 
hen — und die amtlichen, von einem der Kommissionsmitglieder, dem 
Geschichtsschreiber und Kenner der jüdischen Frage Tadeusz Czacki, 
zusammengefaßten Ergebnisse der Nachforschungen vermitteln uns 
nun das folgende Bild: 
Die Gesamtstärke der jüdischen Bevölkerung Polens und Li 
tauens belief sich nach den amtlichen Ausweisen für das Jahr 1788 
auf rund 617 000 Seelen; Czacki wies indessen auf Grund einer gan 
zen Reihe von Stichproben nach, daß diese Zahl auf mindestens 
900 000 angesetzt werden müsse, da die Juden bei den zu fiskali 
schen Zwecken veranstalteten Zählungen hinter der Wirklichkeit weit 
zurückbleibende Angaben zu machen pflegten 1 ). Dieses Ergebnis ent 
spricht annähernd der sachkundigen Schätzung des Mitglieds der vom 
Vierjährigen Sejm eingesetzten „jüdischen Kommission“ Butry- 
mowicz, nach dessen Aufstellung die Juden in Polen ein Achtel der ge 
samten 8790000 Seelen zählenden Landesbevölkerung ausmachten. 
Die fast eine Million starke jüdische Bevölkerung nahm infolge der üb 
lichen Frühehen auch weiter rasch zu. In der Schule wurden die Kna 
ben nach wie vor ausschließlich im religiösen Schrifttum, insbesondere 
im Talmud unterwiesen. Sehr bedeutend war die Rolle, die die Juden 
im Außenhandel spielten: ein Zehntel der gesamten Einfuhr und nicht 
weniger als drei Viertel der Ausfuhr (vorwiegend landwirtschaftlicher 
Erzeugnisse: Holz, Flachs, Felle und sonstiger Rohstoffe) lagen in 
ihren Händen. Da der jüdische Kaufmann für seinen Lebensunterhalt 
1 ) Über die 1764—1765 durchgeführte Zählung s. Band YII dieser „Ge 
schichte“, SS 20 und 21. Bei dem 1784 in der Ukraine vorgenommenen Zensus 
wurde festgestellt, daß fast 2 5 0/0 der Juden sich vor der Eintragung in die Kopf 
steuerrollen „gedrückt“ hatten.
	        
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