Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

§ 48. Der Krieg von 1812 
ner von Grodno war für uns höchst ungünstig; hingegen waren uns 
die Juden überall in Polen so sehr ergeben, daß sie sich weigerten, 
dem Feinde als Kundschafter zu dienen, uns aber sehr häufig höchst 
wichtige Nachrichten über den Feind überbrachten“. Angesichts der 
Unzuverlässigkeit der polnischen Verwaltungsbeamten sah man sich 
veranlaßt, die Polizeigewalt in Grodno dem jüdischen Kahal anzu 
vertrauen. Auch der Gouverneur von Wilna bezeugte ausdrücklich, 
daß „das jüdische Volk während der feindlichen Okkupation eine be 
sondere Anhänglichkeit an die russische Regierung gezeigt“ hätte. 
Die Russenfreundlichkeit der Juden machte unter den Polen viel 
böses Blut, und es tauchten sogar Gerüchte auf, daß diese sich an 
schickten, in den Gouvernements Wilna und Minsk sowie im Gebiet 
von Bialystok alle Russen und Juden unterschiedslos niederzumetzeln. 
Es fehlte auch nicht an Beweisen opferwilligen Heldenmuts von, jü 
discher Seite. Viele Juden, die russischen Kurieren Unterschlupf ge 
währten, um sie zu den russischen Truppenführern zu geleiten, oder 
für diese die Stellungen der feindlichen Heeresteile auskundschafte 
ten, fielen den Franzosen in die Hände und wurden standrechtlich er 
schossen oder gehenkt. Alexander I. war dieser Heldenmut nicht un 
bekannt geblieben. Auf seiner Rast in Kalisch empfing er die Mit 
glieder des dortigen Kahals in Audienz und unterhielt sich mit ihnen 
in freundlichster Weise. Unter den Juden dieser Gegend wurden in 
der Volkssprache abgefaßte Aufrufe verbreitet, mit der Aufforderung, 
für den Sieg Alexanders I. zu beten, der das jüdische Volk von der 
Sklaverei erlösen werde. Die in ganz Rußland herrschende patriotische 
Begeisterung kam in der jüdischen Bevölkerung auch sonst vielfach 
zum Ausdruck. 
Als sich das russische Heer nach Westen hin in Bewegung setzte, 
wurden dem Hauptquartier zwei jüdische „Deputierte“ zugeteilt: 
Sundei Sonnenberg aus Grodno und Leiser Dillon aus» Neswiez. Die 
beiden während dieses Feldzuges (1812—1813) zugefallene Aufgabe 
scheint zwiefacher Art gewesen zu sein: einerseits wirkten sie als 
Großlieferanten und erhielten unmittelbar von der Intendantur Auf 
träge, die sie dann an ihre an verschiedenen Orten tätigen Vertrauens 
männer Weitergaben, andererseits aber traten sie wohl als Bevollmäch 
tigte der Kahale und als deren Sachwalter an höchster Stelle auf. In 
dieser Zeit der Kriegswirren legte die Regierung offenbar Wert dar 
auf, in ihrer nächsten Nähe Männer zu haben, die besonders geeignet 
3 77
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.