Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

§ 47. Die Folgen des Gesetzes von 1S0U 
bangerer Sorge sah man dem unabwendbar gewordenen wirtschaft 
lichen Schlag: der Ausweisung aus den Dörfern entgegen. Bald stellte 
sich heraus, daß die angeordnete Maßnahme 60000 Familien be 
drohe. Im Laufe der ihr als Gnadenzeit bewilligten drei Jahre konnte 
diese Riesenmenge unmöglich neue Erwerbszweige ergreifen und in 
neuen Wohnorten Fuß fassen, so daß sie sich dem Hungertod preis 
gegeben sah. Es blieb nichts anderes übrig, als die Regierung in 
Petersburg schleunigst um weiteren Aufschub der verfügten Auswei 
sung anzuflehen. Die Bitten gingen nicht nur von den Kahalen, son 
dern zum Teil auch von den Gutsbesitzern aus, die von dem Auszug 
der auf ihren Besitzungen tätigen jüdischen Pächter und Schankwirte 
schwere Verluste zu erwarten hatten. Die Klagen aus der Provinz 
wurden immer lauter, je näher der letzte Ausweisungstermin, der 
1. Januar 1808, heranrückte. Es ist schwer zu sagen, wie die russische 
Regierung auf dieses Jammergeschrei reagiert hätte, wenn nicht 
gerade damals ein Ereignis eingetreten wäre, das in den politischen 
Kreisen Petersburgs größte Verwirrung hervorrief. 
Es war im Herbst 1806, als von Paris nach allen Ländern Europas 
die Aufrufe zur Beschickung des „Großen Synhedrions“ versandt 
wurden. Dieser Einfall Napoleons, der der österreichischen Regierung 
so großen Schrecken einjagte (oben, § 35), löste auch in Petersburg 
schwere Unruhe aus. Kurz zuvor hatte Napoleon Preußen überrannt, 
und schon hielt er Einzug in dessen polnischen Provinzen, um mit 
jedem Tage den Grenzen Rußlands näher zu kommen. Die Furcht vor 
dem politischen Genius des Franzosenkaisers ließ nun bei der russi 
schen Regierung den Verdacht auf kommen, daß Napoleon mit der 
Einberufung des allweltlichen jüdischen Kongresses zu Paris den 
Zweck verfolge, die jüdischen Massen Preußens, Österreichs und Ruß 
lands auf seine Seite zu ziehen. Unter solchen Umtänden lag die Be 
fürchtung nahe, daß die Erbitterung der russischen Juden über die 
bevorstehende Ausweisung aus den Dörfern nur den heimtückischen 
Plänen Napoleons zustatten kommen könne, für den es überaus vor 
teilhaft sein würde, im Bereiche seiner voraussichtlichen Kriegs 
operationen ein Zentrum glühenden Russenhasses vorzufinden. Um 
die in der Westmark herrschende Unzufriedenheit im Keime zu er 
sticken, schien es daher geboten, von der angekündigten Ausweisung 
vorerst Abstand zu nehmen. So wurde denn der Innenminister Ko- 
tschubej Anfang Februar 1807, als gerade das Pariser Synhedrion 
24 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VIII 
36 9
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.