Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Das französische Zentrum und die englische Kolonie 
St. Paulus-Kathedrale beigesetzt wurde. Der König ließ aber die Ge 
legenheit nicht ungenützt und legte den jüdischen Gemeinden aus 
diesem Anlaß eine Geldbuße in der Höhe von 60000 Mark auf (etwa 
4o 000 englische Pfund nach heutigem Wert). 
Viel folgenschwerer war für die Juden der Ritualmordprozeß in 
Lincoln (1255), der die abergläubischen Geister von ganz England in 
Spannung hielt und auch in den Yolkssagen seine Spur hinterließ. In 
Lincoln war nämlich eines Tages der achtjährige Knabe Hugh plötz 
lich verschwunden. Nach langen Nachforschungen wurde seine Leiche 
schließlich in einem Brunnen auf dem Hofe eines Juden entdeckt. 
Ohne zu prüfen, ob hier nicht vielleicht ein Unglücksfall vorliege (der 
Knabe konnte beim Spiel mit jüdischen Kindern in den Brunnen ge 
fallen sein) oder ob die Leiche womöglich von Mördern zur Irre 
führung der Behörden mit Absicht in den Hof eines Juden geworfen 
worden sei, stellte das Gericht, dem Geschrei des abergläubischen 
Pöbels ein williges Ohr leihend, die Untersuchung ganz auf die Auf 
deckung eines Ritualmordes ein. Dem verhafteten Besitzer des An 
wesens, auf dem die Leiche gefunden worden war, zwang man durch 
allerlei Drohungen und Verheißungen die Aussage ab, daß die Juden 
den Hugh ermordet hätten und daß sie „überhaupt alljährlich ein 
Kindlein zu kreuzigen pflegten, um den Namen Jesu zu schänden“. 
So war denn der Boden für eine Märiyrerlegende gut vorbereitet, und 
die Priester von Lincoln beeilten sich, die „geheiligten Gebeine“ in 
nerhalb der Kirchen Umfriedung zu bestatten. Der König Heinrich III., 
der gleich den obskursten seiner Untertanen an die Ritualmordlüge 
glaubte, gab hierauf den Befehl, die Schuldigen dem Gericht zu über 
geben und exemplarisch zu bestrafen; als „Schuldige“ erwiesen sich 
aber nicht weniger als zweiundneunzig Personen, d. h. alle angesehe 
nen Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Lincoln. Sie wurden alle 
festgenommen, nach London gebracht und in den Kerker geworfen. 
Achtzehn von ihnen verurteilte man ohne Säumen zum Tode und ließ 
sie am Galgen sterben. Die übrigen wurden im Tower gefangen ge 
halten und wären von demselben Schicksal ereilt worden, wenn sich 
nicht der Bruder des Königs, der Graf von Cornwall, für sie ins 
Zeug gelegt hätte; auf seine Vorstellungen hin ließ sich Heinrich, 
wohl gegen schweres Lösegeld, zur Freigabe der Gefangenen bewegen. 
An dem ganzen Prozeß verdienten nicht wenig sowohl der geldgierige 
König, dem von Gesetzes wegen das eingezogene Vermögen der Hin
	        
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