Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Osteuropa und der jüdische Orient 
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mobilien Geld ausleihen durften. Hierbei wurde auch die gehässige 
Begründung des Wißlitzer Landtags.in einer noch schärferen Form 
mitübernommen. 
Zu derselben Zeit, da in Polen die katholische Reaktion merk 
liche Fortschritte machte, blieb das mit ihm durch die gemeinsame 
Dynastie verbundene, sich jedoch der Autonomie erfreuende Litauen 
von diesen verderblichen Einflüssen unberührt. In dem erst vor kur 
zem in die Gemeinschaft der christlichen Völker Europas eingetrete 
nen Lande herrschte die patriarchalische Lebensordnung, die in Po 
len bereits ihrer Auflösung entgegenging, noch unerschüttert. Noch 
vermochte die mittelalterliche Kultur die Urwaldbewohner an den 
Ufern des Njemen und der Wilija nicht in ihren Bannkreis zu zie 
hen, und so konnten sich die Juden hier ohne Furcht vor Verfolgung 
und Bedrückung niederlassen. Wann die ersten jüdischen Siedlun 
gen in Litauen entstanden sind, ist schwer mit Sicherheit zu bestim 
men; fest steht nur, daß gegen Ende des XIV. Jahrhunderts bereits 
alle bedeutenderen Städte des litauischen Fürstentums sowie des mit 
ihm verbundenen Wolhynien: Brest, Grodno, Troki, Luzk und Wla 
dimir jüdische Kolonien aufwiesen. Um die gleiche Zeit mochte auch 
die jüdische Kolonie in dem von den Tataren an Litauen abgetretenen 
alten Kiew zu neuem Leben erstanden sein. Der erste, der diese Ge 
meinden in aller Form legitimierte, war der Großfürst Witold oder 
Witowt (i388—i43o), der Litauen bald aus eigener Machtvollkom 
menheit, bald im Namen seines Vetters, des polnischen Königs Ja- 
gello regierte. Im Jahre i388 verlieh Witold den Juden von Brest und 
anderen litauischen Städten einen sich in den wesentlichsten Punk 
ten an die Statute Boleslaws von Kalisch und Kasimirs des Großen 
anlehnenden Freibrief, auf den ein Jahr später ein besonderes Pri 
vileg für die Juden von Grodno folgte. Diese Gesetzgebungsakte zeu 
gen davon, daß der litauische Fürst in seiner staatsmännischen Be 
sorgtheit um das friedliche Dasein der Juden inmitten der Christen 
sowie um die innere Organisation der jüdischen Gemeinden einem 
Kasimir dem Großen durchaus nicht nachstand. Während jedoch die 
erste dieser Urkunden nur die allgemein gehaltenen Formulierungen 
der polnischen Privilegien wiederholt („nach Lemberger Vorbild“), 
gewährt uns der von der üblichen Form abweichende, den Juden von 
Grodno ausgestellte Freibrief einen Einblick in die konkreten Le 
bensverhältnisse der litauischen Juden. Aus dieser Urkunde ist zu
	        
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