§ 61. Das jüdische Schrifttum
Freund besaßen. Als nach dem Tode der beiden Dichter einer ihrer
Gegner sich dahin äußerte, daß sie wegen ihres Freidenkertums
sicherlich in der Hölle schmachteten, erwiderte ihm Bosone, wenn
Dante wie „Manoello“ das Fegefeuer auch nicht erspart geblieben sein
mochte, sei ihnen nach der Läuterung das Paradies dennoch sicher.
Von den drei in italienischer Sprache erhalten gebliebenen Sonet
ten des Immanuel sind zwei besonders für seinen politischen Indiffe
rentismus bezeichnend, der ihn von dem mitten im Strudel der poli
tischen Leidenschaften stehenden Dante so kraß unterscheidet:
„Nichts liebe ich — heißt es da — und verachte auch nichts. In Rom
bin ich bald den Golonna, bald den Orsini (zwei miteinander um die
Macht kämpfende Patriziergeschlechter) Freund und gebe bald jenen,
bald diesen den Vorzug. Ich juble den Erfolgen der Welfen zu, kom
men sie aber zu Falle, so ergreife ich für die Ghibellinen Partei“. Im
dritten dieser Sonette trägt der Dichter auch religiösen Indifferentis
mus zur Schau und spricht mit aller Leichtfertigkeit aus, daß er,
wenn neben Moses und Aaron Petrus und Paulus und Mohammed mit
der Predigt ihrer Lehren vor ihm erscheinen würden, ratlos wäre,
wem er folgen sollte, „welches der Weg der Heiligkeit und welches
der der sündhaften Welt“ sei. Es war dies allerdings nichts als dich
terischer Übermut: in Wirklichkeit blieb Immanuel stets dem tra
ditionellen Judaismus treu, wie dies aus seinen Bibelkommentaren,
ja aus vielen Stellen seiner dichterischen Schriften ersichtlich ist. Daß
er auch in seinem alltäglichen Wandel keineswegs jener Wüstling
und Lebemann war, als welchen man sich den Verfasser der „Mach-
beroth“ wohl vorstellen könnte, beweisen die zahlreichen didaktischen
Gedichte, die in diesem Buche neben frivoler Erotik Platz finden.
Sind doch hier sogar tiefempfundene, im Stile der Psalmen gehaltene
synagogale Lieder eingestreut. Trotzdem war Immanuel bei der stren
gen Orthodoxie ob seiner „Unkeuschheit“ so sehr verrufen, daß auch
die rabbinische Nachwelt für seine Schriften nichts als Tadel übrig
hatte.
In viel schärferer Ausprägung tritt uns die soziale Satire in den
Prosawerken des provenzalischen Schriftstellers Kalonymos ben Ka-
lonymos (1286—i34o) entgegen. Aus Arles gebürtig und durch die
Verfolgungen des Jahres i3o6 zu einem unsteten Wanderleben ver
urteilt, traf der hochgebildete Kalonymos in Avignon mit dem
Freunde der Wissenschaften Robert von Anjou, dem König von
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