Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 61. Das jüdische Schrifttum 
unüberwindliches Hindernis zu bieten vermochten. So hielt denn die 
spanische und provenzalische Glanzperiode im jüdischen Italien ihren 
Einzug, um dort einen kurzen Nachsommer zu erleben. Zwar sollte die 
den Damm des streng konservativen rabbinischen Schrifttums durch 
brechende Flut des dichterischen und philosophischen Freidenker- 
tums zu keinem mächtigeren Strome anschwellen, doch brachte sie 
die kühnen Regungen des gefesselten Gedankens kraft- und klang 
voll zum Ausdruck. 
Als literarischer Bannerträger dieser Geistesrichtung tritt uns der 
Dichter Immanuel Romi (Immanuel ben Salomo ha’Zifroni, um 1270 
bis i335) entgegen, den man als „mittelalterlichen Heine“ zu be 
zeichnen pflegt. Er war einer der gebildetsten Männer des damaligen 
Rom. Neben der hebräischen und arabischen beherrschte er souverän 
auch noch die lateinische und die neuitalienische Literatur, wobei sein 
Hauptinteresse der Philosophie und der Dichtkunst galt. In der 
Region der Philosophie stand Immanuel unter dem Einfluß der „kö 
niglichen Gedanken“ des Maimonides, in dessen rationalistischem 
Geiste er Kommentare zu den Büchern der Bibel schrieb. Auf dem 
Gebiete der Dichtkunst eiferte er aber den aus der klassischen Epoche 
des Halevi und Alcharisi stammenden spanisch-provenzalischen Vor 
bildern nach, wobei er die der damaligen italienischen Literatur ent 
lehnte Sonettform an wendete. Von seinen moralphilosophischen Bibel 
kommentaren ist uns allerdings nur weniges erhalten geblieben (so 
sein Kommentar zu den „Sprüchen Salomonis“), dagegen haben 
die Verse des Immanuel, ganz eigenartige Schöpfungen in der 
hebräischen Poesie, die Jahrhunderte überdauert. Der Dichter ver 
faßte sie in seinen jungen Jahren, als er noch sorglos und in voller 
Unabhängigkeit in Rom lebte, sammelte und bearbeitete aber seine 
Gedichte schon in vorgerücktem Alter, als er in Armut verfallen und 
auf die Freigebigkeit seiner Gönner angewiesen war. Seinen Lebens 
abend brachte nämlich Immanuel im Hause eines reichen jüdischen 
Mäzens in Fermo zu, wo er die Früchte seines dichterischen Schaffens 
in einer an den „Tachkemoni“ des Alcharisi (Band IV, § 45) er 
innernden Sammlung („Machberoth“) zusammenfaßte, in der ge 
reimte Prosa und Gedichte in bunter Folge aneinander gereiht sind. 
Den hervorstechendsten Zug im Schaffen des Immanuel bildet 
das Zusammenspiel von Lyrik und Humor. Im Gegensatz zu dem 
Sänger der „himmlischen Laura“, Petrarca, dem die Liebe Religion 
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