Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus 
Beweis anzusehen. In derselben Weise wurde die Schuld des Arztes 
Tobias sowie der übrigen, zusammen mit ihm und auch später ver 
hafteten Gemeindemitglieder „erwiesen“. Im Juni wurden sechs von 
ihnen bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt; zwei 
von den Angeklagten ließen sich durch die Verheißung einer weniger 
qualvollen Hinrichtungsart zur Taufe bewegen und wurden zur Ent 
hauptung „begnadigt“, während der achtzigjährige Greis Moses im 
Kerker tot aufgefunden und als Leiche verbrannt wurde. Das Ver 
mögen der Angeklagten wurde eingezogen. 
Mittlerweile unterließen es die Mönche nicht, aus der Geschichte 
des angeblichen Märtyrers ein gewinnbringendes Geschäft zu machen: 
sie ließen die Leiche des Simon einbalsamieren und sprachen das 
dreijährige Kind heilig. Man setzte Gerüchte über die von den Ge 
beinen des Simon gewirkten Wunder in Umlauf, und die Glaubens 
seligen strömten in Scharen nach Trient zur Anbetung der heilspen 
denden Reliquie herbei. Über der Judenheit Italiens zogen sich 
schwere Wolken zusammen. Der Doge von Venedig, Mocenigo, wies 
die Behörden von Padua und Friaul an, Maßnahmen zum Schutze der 
Juden zu ergreifen, die wegen der ihrem Leben und Besitz drohenden 
Gefahren sich nicht vom Platze zu rühren wagten. In seinem Dekret 
betonte der Doge, daß die ganze Ritualmordaffäre durch die Agitation 
der „Prediger“ angezettelt worden sei, und sprach seine feste Über 
zeugung aus, daß die Lügenhaftigkeit der Anschuldigung bald klar 
zutage treten würde. Der Papst Sixtus IV. ließ seinerseits, wohl auf 
die Beschwerden der römischen Juden hin, an den Bischof von Trient 
Hinderbach den Befehl ergehen, das noch immer schwebende Ermitt 
lungsverfahren einzustellen, und beauftragte einen anderen Bischof 
als Sonderkommissar mit der allseitigen Aufklärung der ganzen An 
gelegenheit. Im Oktober i^5 wandte sich der Papst an alle italieni 
schen Herrscher mit einer Enzyklika, in der er sie aufforderte, ange 
sichts der durch Predigten, Schilderungen und bildliche Darstellungen 
verbreiteten Mär von den an der Leiche des angeblichen „heiligen 
Märtyrers“ sich ereignenden Wundern die Juden vor den ihnen 
dadurch drohenden Gefahren tatkräftig in Schutz zu nehmen. 
Inzwischen wurde durch die von dem päpstlichen Kommissar neu ein 
geleitete Untersuchung festgestellt, daß die Leiche des Simon bös 
willigerweise zu dem jüdischen Hofbesitzer geschleppt worden war, 
daß die von der Leiche gewirkten Wunder keineswegs erwiesen, daß 
$8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V 
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