Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

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§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1U92) 
für die Exulanten zu erbitten. Einzelne Auswanderergruppen zogen in 
die Fremde, ohne erst den Ablauf der um zwei Tage, bis zum 2. Au>- 
gust verlängerten Gnadenfrist abzuwarten. Die Hauptmasse der Aus 
gewiesenen blieb jedoch bis zum letzten Augenblick im Lande. Ein 
merkwürdiger Zufall wollte es, daß diese Tage in die erste Dekade des 
Monats Ab, in die nationale Trauerwoche fielen. Etwa 200 ooo 1 ) Ju 
den rissen sich für immer von ihrer Heimat los. Die letzten drei 
Tage vor dem Auszug umlagerten die Exulanten zu Tausenden die ge 
heiligten Gräber ihrer Väter, sie mit Strömen von Tränen benetzend. 
Sogar die teilnahmsvolleren unter den Christen vermochten nicht 
ohne tiefste Gemütsbewegung diese Abschiedsszenen mitanzusehen. 
Viele der Ausziehenden nahmen die Grabtafeln zum Andenken mit 
sich oder übergaben sie insgeheim ihren Brüdern, den Marranen, zur 
Aufbewahrung, die sie schweren Herzens in dem Lande der Inquisi 
tion zurücklassen mußten. 
Die Verbannten zerstreuten sich in alle Winde. Die Hälfte brach 
nach dem nahegelegenen Portugal auf, eine kleinere Gruppe begab sich 
nach Navarra, während sich der Rest in Nordafrika, in Italien und der 
Türkei ansiedelte. Eine von den Auswanderergruppen, an deren Spitze 
Isaak Abravanel stand, ließ sich in Neapel nieder. Auf ihren weiten 
Wanderungen hatten die Heimatlosen unzählige Leiden zu überstehen; 
Hunger, Krankheit und Tod waren ihre unzertrennlichen Reisege 
fährten. 
So war denn Spanien seine Juden, Hunderttausende von arbeits 
frohen und kulturell hochstehenden Bürgern, losgeworden. Später 
rückte die Inquisition auch den Mauren zu Leibe, indem sie sie vor 
die Wahl zwischen Taufe und Ausweisung stellte. (Eine große Zahl 
von auf diese Weise zur Taufe gezwungenen Mauren, der sogenannten 
„Moriscos“, hielt aber insgeheim nach wie vor am Islam fest und 
geriet so in die gleiche Lage wie die Marranen.) Zwar gelang es Spa 
nien auf diesem Wege, die konfessionelle Einheit im Lande her 
zustellen, doch war damit zugleich die abschüssige Bahn des wirt- 
f) In der Schätzung der Zahl der Verbannten gehen die Chronisten und 
Geschichtsschreiber sehr weit auseinander; am nächsten scheint der Wirklichkeit 
die auf Grund komplizierter Berechnungen von Isidore Loeb ermittelte und im 
Text angegebene Zahl zu kommen. Diese Zahl ist kaum als zu niedrig veranschlagt 
zu betrachten, wenn man in Erwägung zieht, daß in Spanien eine fast gleiche 
Zahl von Marranen zurückgeblieben war, von denen viele erst später den Wan 
derstab ergriffen.
	        
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