Das französische Zentrum und die englische Kolonie
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wurde, ließen es sich die bereits versammelten Scharen nicht nehmen,
jedesmal vor der Heimkehr ihren Kriegsfuror an den Juden auszu
lassen. Im Sommer desselben Jahres 12 36, als die Gemeinden von
Narbonne in Gefahr schwebten, zogen zügellose Kreuzfahrerbanden
mordend und plündernd durch Bordeaux, Anjou, Poitou und andere
Städte. Nur wenige Juden suchten in der Scheintaufe Rettung,
während die Mehrzahl heldenmütig den Märtyrertod erlitt; manche
legten gleich den rheinischen Märtyrern des ersten Kreuzzuges selbst
Hand an sich. Etwa 3ooo Juden wurden in diesem grauenvollen Som
mer ermordet oder verstümmelt 1 ). Sogar Papst Gregor IX. vermochte
sich der an ihn ergangenen „flehentlichen Bitte der in Frankreich
lebenden Juden“ um Schutz gegen die Kreuzträger nicht zu verschlie
ßen. In einem Sendschreiben an den Bischof von Bordeaux und an die
Kirchenfürsten der anderen heimgesuchten Städte erinnerte er sie dar
an, daß das Judentum weder auf dem Wege der Vernichtung noch
mit dem Mittel der gewaltsamen Taufe bekämpft werden dürfe, um
so mehr als die Juden ohnehin in „einer neuen ägyptischen Knecht
schaft“ („sub nova Egyptiaca servitute“) schmachteten — ein Ge
ständnis, das im Munde des Hauptes der christlichen Kirche besonders
schwerwiegend erscheint.
§ 4. Religiöse Disputationen und die Verbrennung des Talmud;
die Opfer der Inquisition
Das Zeitalter tiefgreifender religiöser Gärung und kühner Neuerer
innerhalb des Christentums rief im Volke eine noch nie dagewesene
Vorliebe für religiöse Disputationen wach. Schon die Lehren der Wal
denser und Albigenser, die die den Juden am meisten widerstrebenden
Dogmen des Christentums ablehnten, waren nicht zuletzt durch jene
leidenschaftlichen Wortkämpfe beeinflußt, deren Gegenstand gerade
diese Fragen bildeten und die von jeher zwischen Juden und Christen
geführt wurden. In der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts, in der
Zeit der höchsten Blüte der „Irrlehren“ in Südfrankreich, wurden
1 ) In den jüdischen Quellen wird die Katastrophe nur in einer kurzen Notiz
der Chronik „Schebet Jehuda“ (im Anhang mit falscher Datierung: 1219) er
wähnt, doch erfahren wir Genaueres darüber aus dem Sendschreiben des Papstes
Gregor, das mit den Worten: „Lacrimabilem Judaeorum . . . recepimus quaestio-
nem“ beginnt (S. Raynaldus, Annales ecclesiastici s. a. 12 36 und unten in der
Bibliographie).