Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 50. Die Disputation zu Tortosa 
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würde. Sie faßten daher den Entschluß, der Beantwortung verfäng 
licher Fragen soweit wie möglich auszuweichen und für alle Fälle 
bei der Erörterung der einzelnen Punkte nur je einen Redner spre 
chen zu lassen. 
Bald wurde in den Mittelpunkt der Diskussion die von altersher 
umstrittene Frage über die in der Bibel enthaltenen, angeblich auf 
Christus bezüglichen messianischen Prophezeiungen gerückt. Damit 
war der gefährlichste Streitpunkt: die Frage von dem eigentlichen 
Wesen des Messias an die Reihe gekommen. Die Juden bestritten zwar 
nicht, daß der Messias schon längst geboren sein könnte, meinten 
aber, daß er sich jedenfalls der Welt noch nicht offenbart habe, und 
daß er, solange die Stunde der Erlösung für Israel noch nicht geschla 
gen hat, entweder gleich dem Chanoch oder Elias im Himmel verharre 
oder aber unerkannt das irdische Jammertal durchwandere. Damit 
stellten sie sowohl die göttliche Natur des Messias als auch seinen 
Beruf, das Menschengeschlecht vpn der Erbsünde zu erlösen, aufs 
unzweideutigste in Abrede, was auf heftigsten Widerspruch von seiten 
des Papstes, des Geronimo und ihrer Genossen stieß. Hin und wieder 
reichten die Juden ihre Thesen in schriftlicher Form ein, worauf 
Geronimo sich zur Abfassung von Gegenthesen veranlaßt sah, die er 
dann in einer ganzen Reihe von Sitzungen mit Ungestüm verfocht. 
Die jüdischen Delegierten bekundeten in ihren Meinungsäußerungen 
v fast durchweg volle Einmütigkeit und nur in einem einzigen Punkte 
gingen ihre Ansichten auseinander. Als nämlich Geronimo in einer der 
Sitzungen den Talmud zu schmähen begann und zur Zielscheibe sei 
ner Angriffe manche phantastische Legenden aus der Haggada wählte, 
überreichte Astruc Halevi der Gegenpartei eine schriftliche Erklärung 
des Inhalts, daß er den Legenden keinerlei religiöse Bedeutung bei 
messe; wiewohl seine Erklärung von den meisten Delegierten gutge 
heißen worden war 1 ), traten ihm Joseph Albo und Rabbi Ferrer 
(Vidal Benveniste) dennoch in scharfer Form entgegen, indem sie den 
haggadischen Teil des Talmud als dem halachischen ebenbürtig er 
klärten und nur das eine Zugaben, daß viele von den in der Haggada 
enthaltenen Aussprüchen und Legenden in übertragenem Sinne ver 
standen werden müßten. Es war dies die Fortsetzung jenes alten 
1 ) Das amtliche, von den Mönchen geführte Protokoll der Disputation macht 
aus dieser Deklaration eine durch die christliche Überredungskunst erzwungen© 
Preisgabe der „Garstigkeiten des Talmud“.
	        
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