§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen
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tigen Königs stellten, ist aus der uns überlieferten Rede eines dama
ligen Rabbiners zu ersehen, die, obwohl allem Anscheine nach apo
kryph, nichtsdestoweniger die Stimmung der französischen Juden in
der Regierungszeit Ludwigs des Heiligen wahrheitsgetreu widerspie
gelt. Es wird nämlich erzählt, daß einer der königlichen Erlasse über
die Nichtigkeitserklärung jüdischer Schuldforderungen namentlich im
Bezirk von Narbonne große Erregung hervorrief. Die Vertreter der
dortigen jüdischen Gemeinde traten darauf zusammen, um über die
schwierige Lage zu beraten. Auch der Provinzialstatthalter, den die
Einmischung des Königs in die Angelegenheiten der autonomen Pro
vinz verstimmt hatte, wohnte der Versammlung bei. Hier eben soll
der Rabbiner von Narbonne Meir ben Simon, ein bekannter Apologet
und Streitredner, mit der erwähnten Rede hervorgetreten sein 1 ). Der
Redner wies auf die Vorrechte hin, die den Juden von den franzö
sischen Königen seit der Zeits Karls des Großen eingeräumt zu werden
pflegten, und erinnerte zugleich an die von den Juden diesem Herr
scher in seinem Kampfe mit den Arabern um den Besitz von Narbonne
erwiesenen Dienste. Heute aber — so fuhr R. Simon fort — sind d.ie
Juden durch die ungerechten Maßnahmen des Königs Ludwig in eine
prekäre Lage versetzt. Man verbietet ihnen, aus dem Lande eines Sei
gneurs in das eines anderen zu ziehen — was sollen aber diejenigen
beginnen, die an ihrem Wohnorte keine Erwerbsquellen finden? Bei
der Übersiedlung aus einer Stadt in die andere wird ihnen am Stadt
tore ein besonderer Eingangszoll abgenommen. Der König hat die
Statthalter angewiesen, den Juden bei der Eintreibung von Schulden
bei Christen keinerlei Beistand zu leisten, während doch die Juden
gezwungen sind, ihren christlichen Gläubigern die Schulden voll zu
rückzuzahlen. Man verbietet den Juden, Geld auf Zinsen oder ,,mit
Nutzen“ auszuleihen, ohne zwischen übermäßigem „Wucher“ (usurae)
und rechtmäßiger Kapitalrente einen Unterschied zu machen, die we
der von der Bibel noch von den christlichen Kaisern unter Verbot
gestellt wurde. Und doch können weder die Juden, die zu den anderen
Berufen keinen Zutritt haben, noch auch die häufig auf Darlehen an-
Ü Diese Rede hat sich in dem „Milchemeth mizwa“ betitelten Werke des
R. Meir erhalten, das einen Dialog zwischen einem Juden und einem Christen so
wie andere theologische Erörterungen enthält. Sie ist auf Grund des in der Biblio
thek von Parma aufbewahrten Manuskriptes in ,,Les rabbins frangais“ von Renan
und Neubauer sowie in anderen Quellen wiedergegeben, auf die unten in der
Bibliographie des näheren hingewiesen ist.