Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert 
schließen zu können. So mußte denn ein jüdischer Chronist aus späte 
rer Zeit (der Verfasser des „Emek ha’bacha“) seinem Berichte über 
die Schrecken des „Schwarzen Todes“ die fragmentarischen Nach 
richten christlicher Annalisten der Vorzeit zugrundelegen. Gleich 
der Chronographie war auch die synagogale Poesie verstummt, als 
ob die Tränen der Gemarterten versiegt wären. Die wenigen „Kinnoth“ 
der fast gänzlich unbekannt gebliebenen Verfasser, in denen der Un 
tergang vieler Hunderte von Gemeinden betrauert wurde, standen an 
Kraft des in ihnen zum Ausdruck gebrachten nationalen Protestes 
den gleichgearteten Erzeugnissen der vorhergehenden Epoche bedeu 
tend nach und fanden nicht einmal in die Liturgie Aufnahme. Nur 
das anläßlich der Prager Tragödie vom Jahre 1889 von Abigdor 
Kara verfaßte Klagelied (oben, § 45) reicht mehr oder weniger an 
die älteren Vorbilder heran. Die Wiener Katastrophe des Jahres 1^21 
bildet den Gegenstand einer in jüdisch-deutscher Mundart abgefaßten 
phantastischen Chronik („Wiener Gesera“), die zwar reich an er 
schütternden Schilderungen des Martyriums ist, jedoch der geschicht 
lichen Perspektive völlig ermangelt. 
Recht unergiebig ist auch die Ausbeute an der uns aus dieser Zeit 
überlieferten volkstümlichen Moral- oder „Mussar 4 ‘-Literatur. Die im 
XV. Jahrhundert entstandenen Bücher: „Sefer chassidim katan“ und 
das „Sittenbuch“ (dieses in der jüdisch-deutschen Umgangssprache 
abgefaßt) stellen nichts als eine Nachahmung des klassischen „Buches 
der Frommen“ (Band IV, § 4o) dar. Hier wie dort die Anpreisung 
der Demut und der Enthaltsamkeit, strenger Frömmigkeit und recht 
schaffenen Lebenswandels, des religiösen Fatalismus und der nur 
passiven Resistenz. Bemerkenswert ist es, daß in diesen didaktischen 
Werken, deren Verfasser in engster Berührung mit dem Volke stan 
den, gar oft Klagen darüber laut werden, daß in den Elementar 
schulen und den Jeschiboth aller Nachdruck auf den talmudischen 
„Pilpul“ gelegt, während das Studium der Bibel, der Haggada, des 
Midrasch und sonstiger erbaulicher Schriften völlig vernachlässigt 
werde. Das Volk scheint eben in der den Herzensbedürfnissen und den 
sittlichen Antrieben nicht genügend Rechnung tragenden rabbinischen 
Wissenschaft nur wenig Befriedigung gefunden zu haben. 
Völlig einsam steht unter den engherzigen Talmudisten jener Zeit 
der Prager Rabbiner Jomtob-Lipmann Mülhausen, der Verfasser des 
Buches „Nizzachon“ („Der Sieg“, verfaßt um i4io). Sein Bestreben 
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