Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus 
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sehen Selbstverwaltung nicht ausschließlich zum Spielball fremder 
Interessen werden zu lassen und sie trotz der Ungunst der Verhält 
nisse als nationale Schutzwehr erhalten zu können. Die Führer der 
Judenheit verstanden es aber, sogar die zufällig entstehenden Ge 
meindeverbände, die von den Herrschern zu fiskalischen Zwecken 
ins Leben gerufen wurden, dem jüdischen Interesse dienstbar zu ma 
chen. Die Kaiser, die oft die Gesamtheit der jüdischen Gemeinden 
einer bestimmten Provinz mit einer außerordentlichen Steuer belaste 
ten, forderten nämlich zuweilen, daß diese Steuer auf einem speziel 
len Gemeindevertreter tag bestätigt und unter die einzelnen Gemeinden 
verteilt werde; die zu fiskalischen Zwecken einberufenen Versamm 
lungen wurden nun von den Gemeindevertretern zur Erörterung der 
Fragen des inneren Gemeindelebens, zur Ausarbeitung eines einheit 
lichen Selbstverwaltungsreglements wie überhaupt zur Zentralisierung 
der Selbstverwaltung ausgenützt. Solche „Judentage“ wurden im XIV. 
und XV. Jahrhundert namentlich in den Rheinlanden (Mainz i38i, 
Bingen i457 usw.) und in Bayern (Nürnberg i438, Regensburg 
1471 und sonst) abgehalten. Dies führte zur Bildung von die Ge 
meinden eines ganzen Bezirks umfassenden Verbänden von der Art 
des ehemaligen rheinländischen Verbandes Speyer-Worms-Mainz 
(oben, § 2 5), die indessen wohl kaum über ein ständiges Zentral 
organ verfügt haben mochten. Ein ähnlicher Gemeindeverband be 
stand bis zur Wiener Katastrophe vom Jahre 1^21 auch in Öster 
reich, wo die Gemeinden von Wien, Wiener-Neustadt und Krems 
zusammen mit manchen anderen kleineren Gemeinden gleichsam 
einen einzigen Verwaltungsbezirk bildeten. 
Im Mittelpunkt der Selbstverwaltung stand das geistliche und ge 
richtliche Organ der Gemeinde, das Rabbinat, wobei, wie eben er 
wähnt, die Rabbiner den christlichen Behörden gegenüber nicht sel 
ten zugleich mit den weltlichen „Parnassim“ als „Judenmeister“ auf 
traten. Es wird vermutet, daß eben in dieser Zeit zuerst die Institu 
tion der „Semicha“ oder der Rabbinerordination eingeführt worden 
ist: jeder Rabbinatskandidat hatte vor einem Rabbinerkollegium oder 
bei einem einzelnen maßgebenden Gelehrten eine Prüfung abzulegen, 
worauf ihm ein zur Bekleidung des Rabbineramtes berechtigendes 
Diplom ausgestellt wurde. Der berühmte Wiener Rabbiner Meir 
Halevi (um 1870) führte überdies den Titel „Morenu“ („unser Mei 
ster“) ein, der den durch Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und sittliche
	        
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